Tanzreisen nach Bulgarien

Folklore im Wandel – 2

Was Timothy Rice in seinem Buch „Music in Bulgaria“ (1) über Eingriffe staatlicher Kulturinstitutionen bei der Produktion von Folkloremusik im kommunistischen Bulgarien (siehe Musik und Politik) berichtet, deckt sich mit meinen Bulgarien-Erfahrungen – oder besser so: Was ich dort erlebt habe 1983 bis 1989, aber auch danach, als die verschwundene kommunistische Kulturadministration ein Vakuum hinterließ, fügt sich bruchlos in seine Darstellung.

Z.B. 1986 die plötzliche und irritierende Vereinnahmung einer zuvor von Belčo Stanev und seinem Chef Teodosiev höchst intim organisierten, überaus charmanten Kultur- und Tanzreise durch die staatliche Balkantourist. Je offensichtlicher in den achtziger Jahren das Scheitern der kommunistischen Ideologie wurde, desto schärfer wurde in Bulgarien das politische Klima, desto rigoroser die administrativen Vorgaben.

Gastfreundschaft der frühen Jahre

Auf den beiden ersten Reisen, die ich unter Belčo Stanevs Leitung mitmachte, 1983 und 1984, erwartete uns beinahe an jeder Station, an der unser Bus hielt, um irgendeine Sehenswürdigkeit zu besichtigen oder um zu essen, eine einheimische Folkloregruppe in Trachten, die bei unserem Eintreffen sofort anfing zu singen; gelegentlich hatten sie kleine Blumensträußchen in den Händen, die sie uns persönlich überreichten. Wir fühlten uns auf Händen getragen; dadurch, daß wir in der Lage waren, zu ihrer Musik mitzutanzen, sprang der Funke schnell über und es entstand eine herzliche, familiäre Atmosphäre.

Ähnlich war die Situation in dem Haus, wo der Kurs stattfand, ein etwas abseits gelegenes Ferienheim. Außer uns war nur das Küchenpersonal da, das sich jederzeit um unsere Bedürfnisse kümmerte. Es gab ein Picknick mit einem frisch geschlachteten Lamm am Spieß über der offenen Glut; unsere Akkordeonisten hatten selbstverständlich ihre Instrumente dabei und die Küchenfrauen führten den Horo an.

Unter der Führung der BKP

Das war 1986 auf einmal anders. Balkantourist hatte offenbar nicht begriffen, was wir da machen – oder dem Personal war das, wie in vielen anderen Bereichen auch, z.B. der Gastronomie, schlicht egal – und quartierte uns in Borovec in ein Riesenhotel ein. Trotz seiner Größe  konnte (oder wollte) es nicht einen einzigen Raum für unsere Tanzkurse bereitstellen. Wir mußten draußen im Freien, auf dem rauhen, unebenen Asphaltparkplatz unsere Tanzschühchen kaputtanzen. Und plötzlich waren da ununterbrochen zwei Fremdenführerinnen um uns herum. Ich fragte mich, was die von uns wollten; gebraucht hatten wir die in den Jahren zuvor auch nicht.

Beim Nationalen Folklorefestival in Koprivštica war uns die Schlichtheit der dargebotenen Tänze aufgefallen, die mit den mehrteiligen Formen kontrastierte, die wir im Sommerkurs lernten. Auf meine Frage nach dieser „authentischeren” Dorffolklore entgegnete Belčo Stanev, daß „die Leute” sagen würden, das sei langweilig – womit er ja bei einem Publikum, das kein Bulgarisch versteht und auch nichts von bulgarischer Folklore, durchaus recht hat. Das ist kein Wunder. Echte, ursprüngliche Folkloretänze bekamen wir in den Dörfern sehr selten zu Gesicht. (T. Rice schreibt, die seien zu dieser Zeit schon „tot” gewesen.) Stattdessen sahen wir bei vielen Gelegenheiten Ensembles mit „bearbeiteter” Folklore – die wir dann für „die” bulgarische Folklore hielten.

All dies fügt sich dank Timothy Rice plötzlich in einen schlüssigen ideologischen Kontext – wer hätte das gedacht! Die bulgarische KP hatte das Ziel gesetzt, auch die Folklore als Ausdruck einer nationalen Kultur müsse die Vision einer schönen, modernen Gesellschaft vermitteln. Da durfte sie nicht schlicht und bescheiden daherkommen. Nur im Festival „за афтентичен фолклор” – für authentische Folklore waren die ursprünglichen einfachen Formen geduldet. Überall sonst – bei Auftritten, Konzerten, im Fernsehen, auf LPs und CDs, beim jährlichen Internationalen Folklorefestival in Varna und selbstverständlich auch in den Sommerkursen, die wir Ausländer besuchten, wurden bearbeitete, „verbesserte” Versionen der Folklore dargeboten.

Im Nachhinein mutet die Verärgerung eines Choreographen merkwürdig an, als ein anderer Tanzlehrer uns sein Angebot (im unausgesprochenen Gegensatz zu anderen) als „authentisch” anbot. Seine Tänze seien auch „authentisch”, behauptete der gekränkte Bulgare. Vorausgesetzt, die Entrüstung war aufrichtig, stellt sich hier die Frage, welche verschiedenen Konzepte von „Authentizität” offenbar koexistieren und sich im Raum der hiesigen Folkloretanzszene aneinander reiben.

Die neue Ordnung nach 1989

Nach 1989 war noch einmal ein Wandel zu spüren, der uns erst allmählich bewußt wurde. Wenn uns in den frühen achtziger Jahren noch auf Schritt und Tritt Folkloregruppen entgegenkamen, waren die in den Neunzigern wie weggeblasen. Für uns anspruchsvolle Touristen stellte sich das als mangelhafte Reiseorganisation dar: „Wieso haben wir keine Livemusik mehr?” Unser Reiseführer hatte allerdings lediglich versäumt, uns über die Hintergründe aufzuklären. Die kriegten wir nur dann heraus, wenn wir uns besonders dafür interessierten. Mit dem ganzen kommunistischen Staatsapparat war natürlich auch die materielle und ideelle Unterstützung für die zahlreichen Gruppen verschwunden – und damit auch sie selbst. Julian Stanev, damals schon Leiter des semiprofessionellen Ensembles „Varna”, brachte es genau auf den Punkt: „In der neuen Ordnung müssen die Folkloreensembles selbst ihren neuen Platz finden.” Die einen waren verstreut in die Touristenzentren Europas, um dort während der Saison ihr Geld zu verdienen, und diejenigen, die dageblieben waren, mußten in Bulgarien sehen, wo und wie sie überleben konnten. Manche sahen wir in den typischen Schwarzmeerküsten-Freiluft-Restaurants, wo sie allabendlich vor den Gästen ihr Programm darboten, einschließlich einer ausgedünnten Version des „nestinarstvo” mit dem Tanz mit nackten Füßen über glühende Kohlen. Jeden Abend. Ursprünglich war der Feuertanz ein ganztägiges synkretistisches Ritual mit vorchristlichen Elementen, bei dem die Hauptakteure sich in einen Trance-Zustand steigerten, bevor sie über die Glut gingen. Es wurde in der Strandža zum Fest St. Konstantin und Elena aufgeführt – einmal im Jahr. (2)

Selbstverständlich war das, was bei diesen Auftritten zu sehen war, eine konsequente Fortentwicklung der „verbesserten” Folklore der kommunistischen Ära – jetzt allerdings unter den Marktbedingungen des Kapitalismus. Die Darbietungsform der Folklore mußte sich an den Bedürfnissen des Publikums ausrichten – meist Touristen, die unterhalten sein wollten, und zwar gut unterhalten. Die Touristenunterhaltung war einer der neuen Plätze, die – wie Julian Stanev es ausgedrückt hatte – die Folkloreensembles in der neuen Ordnung fanden.

Preise und Planungs(un)sicherheit

Nach 2000 kamen mir die Folklore-„Reisen” auf eine eher vage Weise merkwürdig abgemagert vor. „Früher” waren wir doch immer auch quer durchs Land gereist, hatten Thrakergräber, den Reiter von Madara und andere spektakuläre Kulturdenkmäler gesehen, aber auch immer wieder schöne Provinzstädtchen mit ihren Volkskundemuseen, oft verbunden mit Begegnungen. Da man von den überaus höflichen und immer um das Wohl der Gäste bemühten Bulgaren nie etwas über Hintergründe erfuhr, blieb man auf die eigene Beobachtungs- und Kombinationsgabe angewiesen. Die „Extras”, die wir bei unseren ersten Reisen Anfang der Achtziger Jahre ahnungslos als originales Element einer Folklorereise angesehen hatten, waren inzwischen schlicht und einfach zu teuer geworden. Allerdings kam hinzu, daß unter den Bedingungen eines anarchischen Kapitalismus, in dem „Demokratie” mit Freiheit von allen Arten von Bindung, auch Vertragsbindung, verwechselt wurde, eine solche Reise schlicht nicht mehr planbar war. Belčo Stanev klagte mir einmal sein Leid über einen Geschäftspartner, bei dem er eine Unterkunft für die Reisegruppe schon im vergangenen August gebucht hatte und dem es im folgenden Mai plötzlich einfiel, den vereinbarten Preis zu verdoppeln – zu einem Zeitpunkt, als die Teilnehmer längst ihren Reisepreis bezahlt hatten, acht bis zehn Wochen vor Beginn der Reise. Wie sollte man mit solchen unzuverlässigen Partnern noch eine Folklorereise organisieren?

(1) Oxford University Press, New York – Oxford 2004, ISBN 978-0-19-514148-1
(2) Zum Fest St. Konstantin und Elena mit dem nestinarstvo vgl. Herwig Milde: Die bulgarische Tanzfolklore, S. 58 ff.

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Ein Gedanke zu „Tanzreisen nach Bulgarien

  1. Zum besseren Verständnis der bulgarischen Verhältnisse ist Mercia MacDermotts Kommentar zu den Bulgaren als Organisatoren (Once upon a time in Bulgaria, Manifesto Press, 2016, ISBN 978-1-907464-16-4, S. 54) vielleicht hilfreich. Der nach unserem Empfinden nur schwer erträglichen Planungsunsicherheit gewinnt sie verblüffende positive Seiten ab.
    Sie berichtet aus ihrer Tätigkeit an der Englischen Schule Sofia 1963-1964:

    Ich kann sagen, daß weder die zwei Wochen Vorbereitung der Lehrer […] jemals die ersten Tage oder Wochen des neuen Schuljahres davor bewahrten, chaotisch zu sein! Ausnahmslos begannen wir ohne einen festen Stundenplan und täglich mußte man im Programm nachschauen, ob der Unterrricht in der letzten Minute geändert wurde! Dieser Zustand war typisch für bulgarische Organisation und das bulgarische Alltagsleben im allgemeinen. Bulgaren passen sich umstandslos solchen Änderungen an und ihre Nerven scheinen nicht im Geringsten zu leiden! Engländer jedoch, die es gewohnt sind, daß alles schablonenhaft im Voraus geregelt ist, fuhren aus der Haut und verfielen der Verzweiflung, wenn sie nicht bereit waren, englische Regeln aufzugeben und die örtlichen Gepflogenheiten zu akzeptieren.
    Objektiv betrachtet waren die Bulgaren keine schlechten Organisatoren – ganz im Gegenteil. Sie hatten einfach ihren eigenen Stil. Sie behandelten Kleinigkeiten mit Geringschätzung, waren aber der Lage gewachsen, wenn eine Krise oder eine große, ihre Aufmerksamkeit beanspruchende Angelegenheit sie herausforderte. […] In Bulgarien konnte alles in letzter Minute erledigt werden und alles konnte abgeblasen werden. Wenn man mitmachte und selbst das Spiel spielte, anstatt passiv am nehmenden Ende zu nörgeln, konnte man feststellen, daß das System seine Vorteile hatte. Es gab einem Gestaltungsspielraum und ein außerordentliches Gefühl von Freiheit, das in einer Gesellschaft unmöglich war, wo alles glatt lief nach den Plänen der Meder und Perser (1).

    (Hier der Originaltext:
    „I may say that neither the teachers‘ two weeks of preparation […] ever prevented the first few days, or even weeks, of the new term from being other than chaotic! Invariably we began without a fixed time-Iable, and one had to check the programme daily in case one’s class had been changed at the last minute! This state of affairs was typical of Bulgarian organisation and the Bulgarian way of life in general. Bulgarians easily adjust to such changes, and their nerves do not seem to suffer in the least! English people, however, accustomed to have everything cut and dried in advance, found themselves being driven up the wall, to drink and to despair, unless they were willing to abandon English norms and accept local customs.
    Viewed objectively, the Bulgarians were not bad organisers – quite the contrary. They simply had a different style. They despised trifles, but rose to the occasion when challenged by a crisis or something big and worthy of their attention. […] In Bulgaria anything could be done at the last moment, and anything could be cancelled. If one joined and played the game oneself, instead of grumbling passively at the receiving end, one came to realize that the system had its advantages. It gave one room to manoeuvre and an extraordinary sense of freedom impossible in a society where everything ran smoothly according to the schedules of the Medes and Persians.” )

    (1) Meder und Perser: s. Altes Testament, Daniel 6,9: „nach dem unwandelbaren Gesetz der Meder und Perser unabänderlich”

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