Lămâiță: mindestens vier Tänze

Unter dem Namen „Lămîiță” oder „Lămâiță” haben mehrere rumänische Tänze den Weg in die westliche Folkloretanzszene gefunden (Bei den beiden Namen handelt es sich um dasselbe Wort in alter rumänischer Rechtschreibung mit „î” und neuer mit „â” (1)): 

1. von Mihai David (1977) „Lămîiță” aus Nord-Muntenien in Korbfassung (li über re) (2),

2. von Silviu Ciuciumiș (Niederlande vor 2006) „Lămâiță” aus der Dobrudscha in W-Fassung (3) und 

3. von Daniel Sandu (Darmstadt 2017): „Lămâiță” aus der Dobrudscha in V-Fassung, auf praktisch dieselbe Aufnahme wie die von Silviu Ciuciumiș, nur in einer anderen Einspielung.

4. Eugenia Popescu-Judetz beschreibt in ihrem Buch Sixty Folk Dances of Romania (4) eine weitere Lămâiță, ebenfalls aus der Dobrudscha, aber als Paartanz.    

Der Name „Lămâiță”

Grammatisch ist die lămâiță (betont auf dem i) wohl als Diminutiv von lămâie (Zitrone) aufzufassen, aber das Wort lămâiță bedeutet nicht, bzw. kann nicht übersetzt werden mit „Zitrönchen” („little lemon”), wie wir im weiteren zeigen werden. Zwischen grammatischer Kategorie (Diminutiv von lămâie) und Wortbedeutung (Blüte mit Zitronenduft) besteht ein wesentlicher Unterschied. 

Lămâiță ist ein rumänischer Trivialname; er bezeichnet laut Dexonline

1. eine Reihe von Pflanzen: Zitronenverbene (Lippia citriodora), Bauernjasmin (Philadelphus coronarius), Echter Thymian (Thymus vulgaris), Schneebeere (Symphoricarpos), Zitronenmelisse (Melissa officinalis), Eberraute (Artemisia abrotanum) – alles Küchenkräuter und Arzneipflanzen meist mit starkem, oft zitronigem Duft (!) – und 

2. eine künstliche weiße Wachsblüte, die für die Krone und den Strauß der Braut und für die Kokarden der Teilnehmer der Hochzeit hergestellt werden, 

3. einen „nicht genauer definierten” (!) Volkstanz, sowie die Melodie, auf die der gleichnamige Tanz ausgeführt wird. (5)

Dexonline zitiert auch Șăineanu (Dicționar universal al limbei române, ediția a VI-a, 1929): Lămâiță: Pflanze, die einen Zitronenduft verströmt (die o.g. Zitronenverbene Lippia citriodora), und aus der die Brautkronen gefertigt werden. 

Also können wir über den Namen summarisch festhalten: Die Lămâiță ist (vermutlich ursprünglich) eine zitronig duftende weiße Blüte, die beim Braut- und Hochzeitsschmuck Verwendung findet, oder deren Nachahmung in Wachs. Die Bezeichnung für diese Blüte dient darüberhinaus als Name eines rumänischen Volkstanzes (bzw. deren – mindestens – zwei). Ein Ritualgegenstand als Tanzname ist zumindest in Rumänien nicht ungewöhnlich; siehe z. B. Drăgăicuță oder Sucitoare. 

Es ist u.E. nicht erforderlich, den Tanznamen zu übersetzen, auch wenn seine Aussprache vielleicht Probleme – jedoch nicht unüberwindliche – macht; um die Herkunft des Namens zu erklären, mögen die o.g. Hinweise auf Pflanzen und Brautschmuck dienen. 

Die vier Tänze

Drei der vier Tänze werden in unserer Folkloretanzszene getanzt. Dies entspricht der Formulierung im online-Wörterbuch, der Name bezeichne einen „nicht genauer definierten” Volkstanz. Allerdings haben wir es hier nur zum Teil mit Varianten eines Tanztyps zu tun, die sich in Stil, Tempo und Rhythmus gleichen, wie etwa Geamparale oder Sârba. Hier liegen drei völlig unterschiedliche Tanztypen vor. 

Mihai Davids Lămîiță aus Nord-Muntenien steht im 2/4-Takt und hat ein lebhaftes Tempo. (6)
Hörprobe:

 

Die von Silviu Ciuciumiș eingeführte „Lămâiță” aus der Dobrudscha steht dagegen im 7/8- (oder 7/16-) Takt.
Hörprobe: 

 

Angela Reutlinger schreibt in den Tanzbeschreibungen „MIX 8”, die Musik bestehe aus Teil 1 = „Hora” in 6/8 und Teil 2 = Geampararele in 7/16. „Nachträglich” habe es sich herausgestellt, daß auch die „Hora” – „obwohl gar nicht üblich” in 7/16 gespielt wird. Das läßt sich aus der Musikaufnahme nicht nachvollziehen; diese hat im 1. Teil breite Viertel in 2-2-3 und im 2. Teil spielt sie die Achtel schneller und akzentuiert aus; beide Teile stehen jedoch in 7/16. Eine „Hora“ ist darin nicht zu erkennen. Bei Giurchescu/Bloland (7) stehen Horas nur in 2/4. (Loneux (8) erwähnt Horas „neuen Stils” in 6/8.) 

Die Tanzanleitungen zu Mihai Davids und zu Silviu Ciuciumiș’ Lămâiță – beschreiben völlig unterschiedliche Schrittfiguren, die sich an einer Stelle nur ungefähr gleichen, nämlich die „Dreierschritte” zu Beginn des 2. Teils (2 Takte), die allerdings in beiden Tänzen unterschiedlich ausgeführt werden. 

Daniel Sandus Lămâiță ähnelt der von Silviu Ciuciumiș. Sie enthält ähnliche Dreier- und Gleitschritte, allerdings in anderer Bewegungsrichtung und Kombination. Daniel Sandu verwendet aber dasselbe Musikarrangement wie Silviu Ciuciumiș, nur von einem anderen Ensemble eingespielt.

Die vierte oben erwähnte, von Eugenia Popescu-Judetz dokumentierte Lămîiță ist ein Paartanz; die Musik entspricht melodisch dem von Silviu Ciuciumiș und Daniel Sandu verwendeten Material. Die dazugehörige Aufnahme auf der LP „Romanian Dances Vol. II“, Folkraft LP-32 von 1970, ist leider ohne Angabe der Musiker erschienen. Popescu-Judetz notiert jedoch Tanz und Melodie in 3/8, während die Folkraft-Einspielung deutlich hörbar in 7/16 (2-2-3) steht und sich damit in direkter Verwandschaft zu den anderen beiden Aufnahmen aus der Dobrudscha befindet. Lediglich die in dieser Fassung sehr spezifische Betonung der Melodie im ersten Musikteil macht diese Variante unverwechselbar. 

Popescu-Judetz’ hat mit Daniel Sandus Version die seitlichen Gleitschritte und die Dreierschritte gemein. Aber dadurch, daß Popescu-Judetz’ Lămîiță ein Paartanz mit spiegelverkehrtem Fußeinsatz der Partner (M beginnt L!) und weitgehend von der Paardrehung geprägt ist, unterscheiden sie sich doch ganz erheblich.
Hörprobe:

 

Die Diskrepanz zwischen der Taktangabe der Tanzbeschreibung und der Musikaufnahme könnte sich eventuell so erklären lassen, daß Eugenia Popescu-Judetz an dieser Stelle keinen Siebener-Takt erwartet hatte; möglicherweise wurde ihr der Tanz als ein 3/8-Takt übermittelt. Die genaue mathematische Analyse von Rhythmen ist ein neueres Phänomen – traditionelle Musiker früherer Generationen achteten mehr auf die Betonungen für einen spezifischen Tanz als auf eine rhythmisch lehrbuchmäßige Ausführung. Auf der tänzerischen Ebene ist es zudem ziemlich unproblematisch, einen 3/8- (bzw. 6/16-) Takt auf 7/16 zu tanzen. Solche fließende Übergänge von 6 nach 7 und umgekehrt – auch von 8 (3-2-3) nach 7 (3-2-2) oder von 5 (2-3) nach 6 (2-2-2) – sind in der Folkloremusikwelt nicht ungewöhnlich; wir haben darüber bereits berichtet. (9)


(1) siehe in diesem Internetmagazin: Sîrba oder Sârba?

(2) LP „Dances from Romanian Tour 1977“, Gypsy Camp RT 5011, Syllabus des Folk Dance Camps 1979 in Stockton S. 178

(3) „MIX – Tänze aus verschiedenen Ländern Teil 8, Syncoop 2006

(4) Duquesne University Tamburitzans, Institute of Folk Arts: Pittsburgh, PA 1979, S. 158 ff

(5) „11 Floare artificială din ceară de culoare albă din care se fac coronița, buchetul pentru mireasă și cocardele pentru cei care participă la nuntă. 12 Dans popular nedefinit mai îndeaproape. 13 Melodie după care se execută acest dans.”

(6) Tanzbeschreibung Lămîiță nach Mihai David

(7) Giurchescu, A., Bloland, S. – Romanian Traditional Dance, Bukarest 1992.

(8) Jacques Loneux – Rumänien: Ein Land und seine Tänze 1995.

(9) Beispiele:

Von 5 (2-3) nach 6 (2-2-2): Die Melodie des makedonischen Pajduško (auf Pece Atanasovski: Makedonische Tänze Nr. 1 bei Michel Hepp oder auf „The greatest bulgarian folk dances“, Gega GD 106 ) erscheint im 3/4-Takt in der serbischen Djurdjevka.

Von 8 (3-2-3) nach 7 (3-2-2): Trâgnala Rumjana, ursprünglich in 8/8 (3-2-3), jetzt wie die Lesnotos im 7/8-Takt (3-2-2).