Alunelul – Nachtrag Nr. 2 

Ein Volkstanz ad usum delphini

So bezeichnet(e) man in der vormodernen Pädagogik kastrierte Texte für den Unterricht („zum Gebrauch des Kronprinzen”); man wollte die „zarten” Schüler vorgeblich nicht mit der rauhen Wirklichkeit konfrontieren. Dabei wussten doch alle – auch die Lehrer – dass die Schüler selbst schon die „rauhe Wirklichkeit” waren … Uns überrascht selbst, wie aktuell dieses Thema der „bereinigten“ Texte gegenwärtig ist. 

Die Hora als moralische Instanz

In unserem Artikel „Alunelul – Haselnuß vs. Nelu” haben wir eine weit verbreitete Version des Liedtextes zitiert, die auf einigermaßen ruppige Weise den Kindern androht, sie würden nicht groß, wenn sie den Tanz nicht tanzten. („Wer die Hora tanzt, wird groß. Wer sie nicht tanzt, bleibt klein.”) Von diesem Text gibt es eine ganze Reihe von Varianten, die sich nur in Details unterscheiden. 

Eugenia Popescu-Județ (1) verdanken wir einen anderen, merkwürdigen Text der Zeilen drei und vier, statt „Cine-n horă o să joace, mare, mare se va face.”

Cine joacă și nu strigă, Face-i s-ar gura pungă. (Übersetzung siehe weiter unten.) 

Danach geht es aber auch bei ihr weiter mit der – hoffentlich gut gemeinten – Warnung, wer die Hora nicht tanze, bleibe klein. Popescus vollständiger Text lautet: 

Alunelul, alunelul, hai la joc,
să ne fie, să ne fie cu noroc!

Cine joacă și nu strigă,
Face-i s-ar gura pungă;

Cine n-o juca de fel,
Să ramîie mititel!

Übersetzungsfragen

Popescu-J. liefert dazu die folgende englische Übersetzung: 

Little hazel, come and dance, / Bring all of us luck.
Whoever dances without shouting, / May his mouth become dried out!
Whoever won’t dance, / May he never grow up!

Über den Wortlaut der ersten Zeile, ob „Alunelul” oder „Alunelu”, haben wir uns schon in unserem ersten Artikel „Alunelul – Haselnuß vs. Nelu” ausführlich geäußert. Der obige Text steht in einer Publikation aus den USA, nicht aus Rumänien; von daher erklärt sich die Hyperkorrektur „Alunelul” mit End-„l”. (In den englisch-phonetischen Aussprachehinweisen „ah-loo-NEH-loo“ fehlt das End-„l” – was unseren Verdacht zu bestätigen scheint.) Auch die Bedeutung von Alunelu (eben nicht „little hazel”) haben wir dort erörtert. 

„Bring all of us luck” unterstellt, dass das Haselsträuchlein (das es freilich im Original nicht gibt) den Tänzern Glück bringe. Das rumänische Original „hai la joc, să ne fie cu noroc” meint dagegen, dass das Tanzen Glück bringen solle („auf zum Tanz, damit er uns Glück bringe”). 

Der Satz „Face-i s-ar gura pungă” bereitet größere Probleme. Die englische Übersetzung „May his mouth become dried out” versucht offensichtlich, irgendwie zu einem Sinn zu kommen. Das Original enthält jedoch weder uscat noch sec o.ä. (beide = trocken) und die gura pungă erschließt sich nicht auf Anhieb: gura ist der Mund und pungă eine Tasche oder ein Beutel. (Wir wollen jetzt nicht an schwäbische Maultaschen denken!) Vielfache Recherchen führen uns zu dem Ergebnis, dass wir uns bei der pungă einen Beutel vorstellen müssen, der oben mit Schnüren zusammengezogen wird. Wir übersetzen also: Dem soll sich der Mund zusammenziehen. Auch an dieser Stelle offenbart die Hora sich als moralische Institution. Sie transportiert die im rumänischen Dorf geltenden Normen: Beim Tanzen muss man Verse rufen. 

Möglicherweise ist das rumänische „de fel” (dt.: so, auf diese Weise) nur ein Schreibfehler. Es müsste nach unserer Überzeugung aber „defel” heißen: gar nicht. So fügt die Zeile sich in die grobgeschnitzte Logik des Kinderliedes ein: Tanzen – groß werden, nicht tanzen – klein bleiben. (Die Verse „Wer die Hora tanzt, wird groß” fehlen bei Popescus Text – möglicherweise liegt auch hier wieder eine Kürzung vor.)

Ob das einfache „Să ramîie mititel” in der Übersetzung ein „niemals” (engl. never) rechtfertigt, sei dahingestellt. Jedenfalls kommen wir zu der Einschätzung, dass die folgende Übersetzung das Original optimal wiedergibt: 

Alunelu, Alunelu, auf zum Tanz, damit er uns Glück bringt!
Wer tanzt und nicht ruft, dem soll sich der Mund zusammenziehen.
Wer ihn [den Alunelul] nicht tanzt, bleibt klein. 

Die letzte Zeile richtet sich ganz offensichtlich an kleine Leute, an die Kinder. Der Hinweis, dass beim Tanzen auch „gerufen” wird, führt uns nun zu einem neuen Aspekt dieses merkwürdigen „Kinder”-Liedes: zu den Strigături

Das „Rufen” – eine rumänische Spezialität

Wir haben in unserer Sammlung neben einigen instrumentalen Einspielungen auch eine mit Gesang. (2) Deren Text haben wir in unserem bereits erwähnten ersten Alunelul-Artikel (s.o.) zitiert. Bei genauerem Hinhören sind ab 0:50 im Hintergrund Strigături wahrzunehmen, die wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. Die haben es nämlich (Strigături-typisch) in sich und wollen so gar nicht zu einem Kinderlied passen. Die Männer skandieren: 

Uite colea mîndra mea, săruta-i-aş guriţa!
Trece dracu‘ peste munte, cum te prinde cum te ţucă!

Schau da: mein Mädchen, ich mag ihren Mund küssen!
Der Teufel kommt über den Berg, wie er Dich fängt, küsst er Dich! 

Strigături sind meist extemporierte, paarweise gereimte Verse mit sentimentalem, moralischem oder wie hier satirischem Inhalt, die während eines Tanzes in dessen Rhythmus gerufen werden. (3) Bei unserem zweiten Verspaar („Trece dracu‘ …”) reimen munte und ţucă sich jedoch nicht, nicht einmal annähernd, und das fällt auf. 

„Das bedeutet, da müsste eigentlich ein anderes Wort stehen (statt ţucă). Das Wort ţucă deutet die ungefähre Richtung an, aber das eigentliche Wort bleibt verborgen, weil es unanständig wäre, es auszusprechen. Die rumänischen Zuhörer setzen aber das „richtige“ Wort [das sich auf munte reimt] in Gedanken ein – oder denken zumindest daran.” (Laura Brinzan, E-Mail am 17.04.2023)

Ein Kindertanz?

Damit kann der Alunelul schwerlich ein Kindertanz sein. „Ob er aber erst in modernen Zeiten zum Kindertanz geworden ist, dafür fehlen uns vorerst leider die Belege” – so haben wir seinerzeit geschrieben. Inzwischen besitzen wir aber einige konkrete Hinweise. 

Zunächst lesen wir in Dobrescus Tanzsammlung von 1931 (4), dass er von „Jungen und Mädchen”, und zwar von heranwachsenden, unverheirateten jungen Leuten („șirul de flăcăi și fete intercalați” – eine Reihe von Burschen und Mädchen abwechselnd) getanzt wurde. Die Bezeichungen für Elementarschulkinder wären copii, băieți und fetițe. Dobrescus Noten enthalten keinen Liedtext. 

Eine andere Quelle bezeichnet ihn sogar als Männertanz: Im Wörterbuch der musikalischen Formen und Genres (5) schreibt Dumitru Bughici unter Bezug auf den bekannten Liedtext: „Obwohl der Alunelul ein Tanz speziell für Männer ist, gibt es auch Varianten, bei denen die Mädchen tanzen”. (Deși a. este un joc specific bărbătesc, există și variante în care dansează fetele.)

Auch Gheorghe Popescu-Județ, Ehemann der genannten Eugenia P.-J., (6a) bestätigt dies. Ihm zufolge ist der Alunelu simplu, der einfache A., die bekannteste Variante der Alunel-Tänze, die überall in Rumänien bis hin zur Moldau getanzt wird; indem Gh. P.-J. diesem die Liedverse zuordnet, die wir an anderer Stelle bereits zitiert haben, ist er als derselbe wie „unser” Alunelul definiert. Er sei der älteste Alunelul, die Urform, von der alle anderen Varianten abstammen. Seine Ausbreitung erklärt Gh. P.-J. durch oltenische Rekruten, die in anderen Provinzen ihren Dienst ableisteten, sowie durch Grundschul- und Sportlehrer. Damit bezeichnet er zwei wesentliche Elemente in der Historie des Alunelul: Er war ursprünglich ein gewöhnlicher Dorftanz und wurde später in die Schulen eingeführt.

Eugenia Popescu-Judetz schreibt in der US-Folklorezeitschrift VILTIS 1974, dass der Alunelul, von dem hier die Rede ist, und der überall in Rumänien auf die gleiche Art getanzt wird, nach USA und Europa exportiert und in das rumänische Elementarschulsystem eingeführt worden sei. Danach, so die Autorin, breitete er sich im ganzen Land aus und wurde in die Repertoires der Dörfer aufgenommen. (6b)  In diesem Detail dreht sie die Abfolge gegenüber Gheorghe P.-J. um. 

Wie dem auch sei – interessant ist hier für uns die Historie in groben Zügen. Wir sehen demzufolge eine Entwicklung des Tanzes in drei Phasen: 

1. Tanz im Dorf (Heranwachsende (Dobrescu) bzw. Männer (Bughici), „früher”, ursprünglich, Oltenien)

2. Tanz in der Schule (Schüler, Zeitpunkt von Dobrescus Buch, nach 1931, ganz Rumänien)

3. Tanz im Kindergarten (Kinder, nach 1945) 

Nach 1945 wurde unter der stalinistisch-kommunistischen Führung die rumänische Folklore für die Indoktrination in der Volkserziehung und Schulpädagogik instrumentalisiert. Alunelul eignete sich sehr gut, die Kinder in den Erziehungseinrichtungen unter staatlicher Aufsicht nationalistisch auszurichten. Man kann heute Erwachsene aus Rumänien ansprechen und fragen, wen man will, alle haben in ihrer Kindheit den Alunelul gesungen und getanzt. Zu den oben angeführten drei Phasen könnte man noch eine vierte hinzufügen: Durch Larisa Lucaci kam der Tanz in den 1950er Jahren in die USA und nahm von da seinen Weg in den internationalen Freizeittanz inner- und außerhalb der USA – wiederum getanzt von Erwachsenen. 

Wenn unsere (einzige) Aufnahme mit Gesang – die o.g. Elektra-Platte – auch keine rumänische Produktion ist, macht sie doch mit ihrem Kindergarten-Text und den Erwachsenen-Strigaturi den Weg deutlich, den der Tanz im Laufe der Jahrzehnte bis in unseren Folkloretanz genommen hat. 

Anmerkung 

Wir verfügen inzwischen über einen weiteren und sehr interessanten Beleg für unsere Darstellung der Historie des „Kindertanzes“ Alunelul, genauer: für seine Ursprünge als gewöhnlicher (Erwachsenen-)Dorftanz. 

In seiner Lieder- und Tänzesammlung von 1916 präsentiert Gheorghe Fira einen Alunelul (7), zwar mit einer gänzlich anderen Melodie, aber mit einem mehrere Strophen umfassenden Liedtext, der u.a. auch den bekannten Vers „Cine joacă și nu strigă …“ (wer tanzt und dabei nicht ruft) und die dazugehörigen Drohungen enthält. Damit dürfen wir dieses Dokument aus dem frühen 20. Jahrhundert unserem Alunelul und seiner Geschichte zurechnen. 

Der Text lautet: 

Alunel dărăpănat,
Drag mi-e neica sprăncenat
Și revărsat de bubat
Și cu părul inelat.
Verwildertes Haselsträuchlein,
Meinen Liebsten mit [dichten] Augenbrauen (8) habe ich gern,
Mit Pickelnarben übersät
Und mit geringeltem Haar.
Refrain:
Alunel, alunel, of, of, of. Hi!

Cine joacă și nu strigă,
Face-i s’ar gura strâmbă,
C’așa-i jocul românesc,
Când l-aud mă’nveselesc.
Wer tanzt und nicht ruft,
Möge einen schiefen Mund bekommen,
Denn so ist der rumänische Tanz,
Wenn ich ihn höre, werde ich froh.
Indeamnă, ’ndeamnă murguleț
Colea’n vale la Cerneț,
Că se face-un târguleț
De fete și de băieți.
Vorwärts, vorwärts, Pferdchen, 
Denn dort im Tal von Cerneț 
ist Markt 
für Mädchen und Buben.
M’a făcut maica pe lună,
Să fiu tot cu voie bună,
M’a făcut maica’n coșari,
Să fiu puiu de călușari.
Meine Mutter zeugte mich bei Mondschein
Damit ich immer gute Laune habe.
Meine Mutter zeugte mich in einem Pferch, 
damit ich ein kleiner Călușar (9) werde.
Toate plugurile umblă,
Numai plugulețul mieu
L-a’nțelenit Dumnezeu. (bis)
Alle Pflüge gehen um,
Nur mein Pflüglein
Hat Gott angehalten.
Dar ’ar bunul Dumnezeu
Să fie pe gândul meu,
Să trag brazdă dracului
La ușa bogatului.
Der liebe Gott gebe,
Dass meine Gedanken geschehen, 
Dass es die Teufelsfurche zieht
vor des Reichen Tür.

Laut Vorwort stammen die Lieder meist aus der Gemeinde Ștefanești in Oltenien; den Alunelul hat Gheorghe Fira als Student am Lehrerseminar in Craiova (Oltenien) aufgeschrieben, wie er in einer Fußnote anmerkt. 

Bereits die zweite Zeile mit der Erwähnung des Liebsten (neica) lässt aufhorchen; seine Beschreibung mit Augenbrauen, Pickelnarben und Locken verrät eine verliebte junge Frau als Sprecherin. In der zweiten Strophe folgen die bekannten Aussagen über das richtige Tanzen und die Konsequenzen für den, der die Regeln nicht befolgt: Ein Schiefmaul wird ihm angedroht. In diesem durchaus nicht kindgerechten Stil geht es in den folgenden vier Strophen weiter: ein Markt für Mädchen und Buben, die Umstände, unter denen die Sprecherin gezeugt wurde, sowie deren Folgen, und zum Schluss noch eine sozial motivierte Verwünschung. Damit ist die Verortung des Alunelul in der erwachsenen Dorfgemeinschaft, so meinen wir, zweifelsfrei belegt. 


(1) Eugenia Popescu-Judetz: Sixty folk dances of Romania. Pittsburgh, Pa. 1979.

(2) Aus der LP „The Whole World Dances” mit Geula Gill und dem Oranim Zabar Folk Dance Orchestra. Elektra EKL-206 (1961) https://www.discogs.com/de/release/10679484-Geula-Gill-Oranim-Zabar-Folk-Dance-Orchestra-The-Whole-World-Dances.

(3) https://ro.wikipedia.org/wiki/Strigătură

(4) Dobrescu, A. L. –  Manual de dansuri nationale (1931), S. 45f.

(5) Dumitru Bughici: Dictionar de forme si genuri muzicale, Bucuresti 1978.

(6a) Gheorghe Popescu-Județ: Jocuri Populare Romînești (1959), S. 24; unter dem Titel Alunelul șchiop allgemeine Aussagen über den „Alunelu simplu”.

(6b) „But now what about the old, well-known Alunelul? (As danced in the U.S.A. and introduced by Larisa Lucacci [sic]. See VILTIS, Jan – Feb, 1958, VFB). Its origin, and its traveling, in a closed circle with hands on shoulders, is practiced all over the country [Romania], in all regions in the same way and even has been exported since late last century (maybe?) or this century abroad, to England, U.S.A. and all places where Romanian immigrants settled. In Romania this Alunelul was one of the dances which was introduced by the teachers into the elementary schools and subsequently spread to the country, being incorporated in the villages‘ repertoires. The melody is charming and the text of the song indicates positively that this dance belongs to the children’s dances.”

(7) Gheorghe Fira: Cântece și hore, București 1916. Alunelul: S. 104

(8) „sprăncenat“: mein *augenbrauiger* Liebster 

(9) „puiu de călușari“ wörtlich: „Kleines (Küken) der Călușari“ = Kind, das die C.-Truppe begleitet. Das ist aber unmöglich, da die C. ein Männer-Geheimbund sind. Die Zeile drückt nur einen Wunschtraum der Sprecherin aus. 

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