Folklore im Wandel – 3
Der bulgarische Tanz „Čičovata“ wird zunehmend bekannter und beliebter; meistens wird eine Instrumentalmusik verwendet (vor allem eine Aufnahme des Ensembles Filip Kutev mit dem Arrangement Georgi Andreevs von 2008), manchmal auch „Davaj be čičo“, gesungen von Daniel Spasov.
Zur Vorgeschichte des Liedes: 1926 zeichnete Vasil Stoin in Nordwestbulgarien erstmalig die Musik des populären Horos „Čičovata” auf, im 2/4-Takt. Ob die gesungene oder die instrumentale Version der Melodie zuerst da war, läßt sich heute nicht mehr feststellen. 1936 spielte Atanaska Todorova aus Čirpan (Thrakien) das Lied unter dem Titel „Daj be (Hvârli) čičo” ein, untertitelt als Ciganska pesen, begleitet vom Orchester Ramadan Lolovs (Arfa No. 2142). Esma Redžepova, eine sehr bekannte Sängerin aus Makedonien, folgte 1967 mit „Davaj, davaj čičo“ auf Jugoton EPY-3736, allerdings im 9/16-Rhythmus. Daniel Spasov sang „Davaj be čičo“ im Rahmen des Musikfilms „Ide duhovata muzika“ („Hier kommt die Blasmusik“), einer Produktion des Bulgarischen Nationalen Radios mit Stücken aus Vidin, gespielt von im Norden sehr populären Blasorchestern. Er gibt an (1), daß seine Version der Melodie des verbreiteten nordwestbulgarischen Horos folgt und eine der vielen heute gesungenen Textvarianten benützt.
Die verschiedenen Liedtexte sind jedoch eine Betrachtung wert. Bei Atanaska Todorova und Daniel Spasov besteht der Refrain aus einer Dankesformel, die tatsächlich von Roma-Bettlern in Bulgarien verwendet wird. Esma Redžepova, eine Romni, benutzt diese Worte nicht. Bei ihrer Fassung dreht es sich um „ein kleines Geschenk“, um für den Geber zu tanzen – čoček und Bauchtanz; um die Aufforderung zum Trinken und dann noch einmal um eine Gabe für das Spielen und Tanzen („gib eine große Bank, Onkel“), die in ihrer unglaubhaften Übertreibung eher charmant wirkt.
Bei Daniel Spasovs Strophen geht es konkreter zur Sache: In seinem Lied wird um „einen Batzen Kohle“ gebeten und um eine Goldmünze. Der „Onkel“ soll „ins Zigeunerviertel“ kommen, „wo man kjuček tanzt und Bauchtanz”. Gepaart mit dem erwähnten Refrain bekommt diese Fassung einen – zumindest für unsere Wahrnehmung – unschönen Beigeschmack.
Dieser verstärkt sich leider noch, wenn man die zum Lied passende Filmsequenz betrachtet. Auch wenn man einräumt, daß „Ide duhovata muzika“ wahrscheinlich zu reinen Unterhaltungszwecken konzipiert wurde, hätte man doch auf die chargierende Darstellung von Roma-Stereotypen (ebenso bei dem Lied „Ciganko“) verzichten können. Der Kontrast zu Daniel Spasovs derzeitigem bemerkenswerten Projekt, der komplexen und feinsinnigen Musik von www.svetoglas.com, könnte größer nicht sein.
Die Aufnahme, die Atanaska Todorova 1936 für die Plattenfirma Arfa einspielte, läßt an Deutlichkeit noch weniger zu wünschen übrig. Zunächst wird der „Onkel“ aufgefordert, „einen Batzen Kohle“ herüberzuwerfen, dann wird um größere Münzen, also mehr Geld, gebeten, darauf soll der Onkel „ein Kilo Wein“ (2) spendieren und obendrein noch der Sängerin sein kleines Mädchen überlassen, „auf daß Gott ihm Gesundheit gebe und auch seiner Frau und den Kindern“.
Im Lied werden „Zigeuner“, anders als bei Daniel Spasov, nicht wörtlich erwähnt, jedoch ist durch den Untertitel auf dem Plattenlabel und die Verwendung der Bettelformel die Zuordnung unübersehbar. Die gestellten Forderungen nehmen im Verlauf der Strophen mehr und mehr unverschämte Züge an, am Ende wird noch die Mär der „kinderkaufenden Zigeuner“ bemüht; insgesamt eine ausgeprägt rassistische Textfassung. Dazu erklingt die wunderbare Musik des Ensembles von Ramadan Lolov (übrigens selbst ein Rom; wie er über diese Einspielung dachte, wissen wir nicht).
Darüber, wie Atanaska Todorova dazu kam, neben ihren vielen Aufnahmen traditioneller und auch selbstkomponierter Stücke diese eine Platte mit „Ciganski pesni“ einzuspielen, kann man auch nur spekulieren.
Derlei unsensible, vielleicht auch scherzhaft gemeinte Grobheiten, wie die beiden vorgestellten bulgarischen Textfassungen an den Tag legen, findet man in südosteuropäischen Ländern häufig, in Bezug auf jegliche Minderheiten. Was aber – aus unserer Sicht – verwundert, ist der tief verankerte und offensichtlich unreflektierte Rassismus bei kulturell gebildeten Menschen.
(1) Mail vom 16.01.2016
(2) Begriff für einen Liter Wein