Mitro le, Mitro – ein Notizbuch und die Mädchen von Caparevo

Das Lied Mitro le, Mitro wird von mehreren Tanzlehrern für die pirin-bulgarische Ginka verwendet, in verschiedenen Aufnahmen mit unterschiedlichen Tempi.

Ihnen allen gemeinsam ist ein 7/8-Takt (3-2-2) und das Lied, das jedoch nicht in jeder Aufnahme bis zu Ende gesungen wird. Dabei verbirgt sich in den letzten beiden Strophen des Liedes die Erklärung, warum ein junger Mann plötzlich krank geworden ist.

Youtube-Video mit einer Aufnahme des Folk Ensembles Sandanski auf der CD „More pile, slavej pile – Pirin Folk Songs“, GegaNew GD 1727 (1998)

// Митро, ле, Митро, сиво гълъбче! //
Oт що е болно, болно момчето, айде ле,
от що е болно, болно момчето?

// Дали е от вино, вино, ракия, //
или от блага, блага туршия, айде ле, 
или от блага, блага туршия?

// Нито е от вино, вино, ракия, //
нито е от блага, блага туршия, айде ле, 
нито е от блага, блага туршия.

// Снощи е отишло в село Цапарево, //
цапаревски моми зогледало, айде ле, 
цапаревски моми зогледало.

// Сите ги на тефтер записало, //
тефтерчето си изгубило, айде ле, 
затова е болно, болно момчето. 
// Mitro, le, Mitro, sivo gâlâbče! //
Ot što e bolno, bolno momčeto, ajde le, 
ot što e bolno, bolno momčeto?

// Dali e ot vino, vino, rakija, //
ili ot blaga, blaga turšija, ajde le, 
ili ot blaga, blaga turšija?

// Nito e ot vino, vino, rakija, //
nito e ot blaga, blaga turšija, ajde le, 
nito e ot blaga, blaga turšija.

// Snošti e otišlo v selo Caparevo, //
caparevski momi zogledalo, ajde le, 
caparevski momi zogledalo.

// Site gi na tefter zapisalo, //
tefterčeto si izgubilo, ajde le, 
zatova e bolno, bolno momčeto.

Die Übersetzung: 
Mitra, graues Täubchen! Warum ist der Junge krank? 
Kommt es vom Wein, von Rakija oder süßer turšija*?
Nicht vom Wein, von Rakija oder süßer turšija;
letzte Nacht ging er ins Dorf Caparevo und schaute sich die Mädchen von Caparevo an. 
Er schrieb sie auf in einem Notizbuch. Das Notizbuch ging verloren, deswegen ist er krank. 

* Turšija ist eingelegtes und fermentiertes Gemüse, eine häufige Beilage zu Mahlzeiten, auch zu alkoholischen Getränken.

In der ersten Strophe findet sich ein interessantes Element: eine direkte Rede an die Adresse Mitras (im Vokativ: Mitro), die nicht von der in Dialogliedern sonst sehr üblichen „Person A spricht zu Person B“-Form eingeleitet wird. Die Bezeichnung als „Täubchen“ zeigt, daß sie dem oder der Sprechenden nahesteht; vielleicht handelt es sich um seine oder ihre Schwester. Ob die Farbe Grau in diesem Zusammenhang einen Symbolgehalt hat, konnten wir bis jetzt nicht feststellen. (1)

Warum bezeichnen die Gesprächsteilnehmer den Kranken lediglich als „Junge“? In der frühesten uns verfügbaren Notation des Liedes ist das nämlich nicht der Fall. Nikolaj Kaufman zeichnete 1982 in der Gegend von Sandanski eine zweistimmige Variante auf, wo in der zweiten Liedzeile der Kranke als Koljo benannt wird (2). 

Kaufmans Co-Autor Manolov brachte vier Jahre später eine kleine Sammlung makedonischer Lieder heraus (3), in der sich Mitro le, Mitro bereits in der heute bekannten Form befindet. Da er in seinem Büchlein keinerlei Informationen zu den einzelnen Liedern beisteuerte, ist leider nicht nachzuvollziehen, ob er das von Kaufman aufgezeichnete Lied für sein Buch leicht bearbeitete oder ob ihm noch eine andere Quelle zur Verfügung stand. 

Gjorgji Dimčevski, der musikalische Leiter des makedonischen Ensembles Tanec, veröffentlichte zwar 1983 in seiner Sammlung von Gesangs- und Instrumentalstücken makedonischer Ensemble (4) Mitro le, Mitro als Teil einer Pirin-Suite, allerdings nur mit reduziertem Text und vor allem einer im Vergleich zu Kaufmans Variante vereinfachten, griffigen und bühnentauglichen Melodie. Womöglich haben Dimčevski und Manolov sich gegenseitig in der jeweiligen Ausgestaltung des Liedes beeinflußt.

Dieses Lied ist nicht sehr alt. Ein Indiz dafür ist das Notizbuch als relativ neuzeitliches Element – gesetzlich geregelte allgemeine Schulbildung gab es in Bulgarien ab dem späten 19. Jhd., im ländlichen Raum jedoch setzten sich Schulen und deren Besuch zunächst nur schwer durch. (5)

Obendrein klassifiziert Kaufman in seiner 2005 erschienenen Sammlung (6) Mitro, le Mitro als ein „Stadtlied“ (gradska pesen) aus dem Zeitraum von 1842 bis 1918 mit dem Hinweis, daß sich das Lied in der Pirin-Region sehr großer Beliebtheit erfreue. Als Quelle nennt er – wenig überraschend – Manolovs Sammlung von 1998. So schließt sich der Kreis.

Eine letzte Frage bleibt: Was hat es mit den Mädchen von Caparevo auf sich, daß ein junger Mann derartig liebeskrank wird?

Der aus Caparevo gebürtige Sänger Georgi Gocev berichtet, daß die Schönheit der Mädchen und jungen Frauen des Dorfes legendär war – ebenso wie ihre scharfe Zunge. Bereits zur Zeit der türkischen Besatzung galten sie als die begehrenswertesten Bräute weit und breit. 

Dies stach wohl auch Andon Zlatkov Tomov ins Auge. Der einflußreiche und gefürchtete Četnik, bekannt als Dončo Vojvoda, der der Region am Anfang des 20. Jahrhunderts vorstand, erließ ein heute noch auf Papier erhaltenes Dekret, das – wörtlich – die „Hurerei“ in Caparevo unterbinden sollte. Den Mädchen und jungen Frauen untersagte er, sich nach Sonnenuntergang mit den „türkischen Unterdrückern“ zu treffen. Bei Zuwiderhandlung drohten Stockschläge. Es ist nicht überliefert, ob sich die jungen Damen tatsächlich des losen Benehmens schuldig gemacht hatten. Wahrscheinlicher ist, daß der als sittenstreng geltende Vojvode es hier mit der Moral gehörig übertrieb. Vielleicht standen auch Motive politischer oder privater Natur hinter dem Erlaß. (7)

In jedem Fall führte diese Begebenheit dazu, daß das Dorf Caparevo und auch das Lied Mitro le, Mitro noch weiter bekannt wurden.

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(1) Vielen Dank an Dilyana Kurdova für ihre Hinweise zur ersten Strophe.

(2) „ot što e bolen Koljo padaro“ – „warum ist er krank, der darniederliegende Koljo“ – Lied Nr. 524 (Kapitel: Humoristische Lieder) in: Kaufman, Nikolaj und Manolov, Ilija: Narodni pesni ot Jugozapadna Bâlgarija – Pirinski kraj. Band 2, Sofija 1994, S. 273. 

(3) Manolov, Ilija: Biljana platno beleše. Makedonski narodni pesni. Sofija 1998, S. 101.

(4) Dimčevski, Gjorgji: Vie se oro makedonsko. Skopje 1983

(5) https://en.wikipedia.org/wiki/Education_in_Bulgaria 

(6) Kaufman, Nikolaj: 1500 Bâlgarski gradski pesni. Tom 1 – Lirični i Ljubovni 1842 – 1918. Varna 2005. 

(7) Der gesamte Aktennachlaß Dončo Vojvodas wurde 1971 beim Abriß seines Geburtshauses entdeckt und befindet sich im Museum in Blagoevgrad. http://plovdivweek.com/balgariya/voyvoda-zabranil-razvrata-na-momi-v-caparevo_102076, abgerufen am 15. 01. 2019