Ajde Jano – Hochzeitstanzlied mit mysteriöser Choreographie

Kaum ein Musikstück der internationalen Folkloretanzszene ist auch in anderen Genres so bekannt geworden wie Ajde Jano. Spätestens seit der Einspielung des englischen Geigers Nigel Kennedy und der polnischen Klezmer-Band Kroke (CD „East meets East“, EMI, 2003) rückte das Lied ins Blickfeld der musikhörenden großen Öffentlichkeit. Seitdem wird Ajde Jano gerne mal dem Klezmer-Genre zugeschrieben; gelegentlich kann man auch lesen, es sei ein Roma-Stück oder – etwas näher an der Wahrheit – ein serbisches Stadtlied (starogradska pesma), wie in der deutschen Wikipedia vermittelt wird. Auch in Serbien wird es zum Teil als Stadtlied angesehen (1).

Tatsächlich aber ist Ajde Jano eines jener Lieder, die von serbischsprachigen Kosovaren traditionell zur Tanzbegleitung während einer Hochzeit gesungen wurden. Der Ethnomusikologe Miodrag A. Vasiljević zeichnete Melodie und Text 1940 auf (2), sein Informant war Blagoje Jerotić, der aus der Gegend von Kosovska Mitrovica im nördlichen Kosovo stammte.

In Vasiljevićs Liedersammlung steht Ajde Jano in der Rubrik „Svatovska igra s pevanjem”; „Hochzeitstanz mit Gesang“.

Die erste kommerzielle Aufnahme des Liedes stammt aus dem Jahre 1956. Mara Đorđević, die bereits einen hervorragenden Ruf als Sängerin traditioneller kosovarischer Lieder hatte (sie wurde 1941 bei einem Vorsingen für Radio Skoplje entdeckt und sang seit 1950 sowohl für Radio Priština wie auch für Radio Beograd (3)), nahm zwei Stücke aus Kosmet (Kosovo und Metohija) auf. Ajde Jano und Karanfile erschienen auf Jugoton C-6447, begleitet vom Narodni Sekstet des Radios Beograd. (4). Das sehr schlicht gehaltene Arrangement für Ajde Jano schrieb Đorđe Karaklajić, Initiator und Leiter des volksmusikalischen Radio-Orchesters.

Mara Đorđević, Jugoton C-6447 (1956)

1960 wurde Ajde Jano für Mara Đorđević und ein Gesangsensemble neu arrangiert, wiederum mit Begleitung des Narodni Sekstet des Radios Beograd, aber diesmal unter der Leitung von Dušan Radetić; LP „Pesme i igre naroda Jugoslavije – Iz Srbije, Bosne, Makedonije i sa Kosova“, PGB RTB LP-102

Diese Aufnahme ist auch auf mehreren Kompilationen zu hören, zuletzt auf der CD „Mara DjordjevićPesme sa Kosova i Metohije“, PGP-RTS 2000

Im selben Jahr entstand ein Arrangement für die KUD Joža Vlahović (Zagreb) unter der Leitung von Emil Cossetto; LP „Pjesme Naroda Jugoslavije“, Jugoton LPY-V-56 (1960). Dieselbe LP erschien auch als „Yugoslav Folk Songs“ auf dem Monitor-Label New York (Monitor MF 327, ebenfalls 1960), setzte Standards für jugoslawische Musik in den Ohren westlicher Hörer und machte auch diese Fassung des Liedes sehr bekannt. Zwischen dem forciert harmonisch aufgerüschten Ajde-Jano-Arrangement Cossettos und dem Đorđe Karaklajićs auf der Jugoton-Platte von 1956 liegen jedoch Welten. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß Emil Cossetto, der vor allem auch für seine vielen wunderbaren Arrangements kroatischer Lieder bekannt ist, für diese einfache Melodie nichts stilistisch Passendes einfallen wollte.


Diesen ersten Aufnahmen von Ajde Jano folgten bis heute Dutzende weitere verschiedener Sänger und Arrangeure. Herauszuheben wäre noch die unter der Leitung von Dennis Boxell vom „Folk Orchestra Beograd“ für das Folkraft-Label eingespielte Aufnahme (Folkraft 1533, 45 rpm) aus den frühen 1960er Jahren. Diese war speziell für den Folkloretanz gedacht und wird bis heute verwendet, z. B. auf Michael Hepps CD „Tänze im Kreis 5“ (Fidula) und auf der von Syncoop herausgegebenen Kompilation alter Folkraft-Aufnahmen, „Anthology of Folklore Music Vol. 2 – Bulgaria and Macedonia“ (Folkraft CD 2902) – hier allerdings unzutreffenderweise als Stück aus Makedonien.

Der Text – Tradition und Projektion

Mara Đorđevićs Interpretation des Liedes entspricht in der Melodie ziemlich genau der Notation von Miodrag Vasiljević, der Text gibt die Version Blagoje Jerotićs von 1940 exakt wieder:

Ajde Jano, kolo da igramo.
Ajde Jano, ajde dušo, kolo da igramo.

Ajde Jano, konja da prodamo.
Ajde Jano, ajde dušo, konja da prodamo.

Ajde Jano, kuću da prodamo.
Ajde Jano, ajde dušo, kuću da prodamo

Da prodamo, samo da igramo.
Da prodamo, Jano dušo, samo da igramo.

Ајде Јано, коло да играмо.
Ајде Јано, ајде душо, коло да играмо.

Ајде Јано, коња да продамо.
Ајде Јано, ајде душо, коња да продамо.

Ајде Јано, кућу да продамо.
Ајде Јано, ајде душо, кућу да продамо

Да продамо, само да играмо.
Да продамо, Јано душо, само да играмо.

Die Übersetzung:

Komm, Jana, laß uns den Kolo tanzen. Komm, Jana, komm, mein Schatz, laß uns den Kolo tanzen.
Komm, Jana, laß uns das Pferd verkaufen …
Komm, Jana, laß uns das Haus verkaufen …
Laß uns verkaufen, laß uns nur tanzen …

Aber es existieren auch Varianten. So erschien 1996 das Album „Spiorad“ der US-amerikanischen und für keltische und schottisch-gälische Musik bekannten Sängerin und Ethnomusikologin Talitha MacKenzie, darauf Ajde Jano mit einem anderen Text – hier der Kern der Strophen:

Ajde Jano, kolo da igramo – Komm, Jana, laß uns den Kolo tanzen.
Ajde Jano, borbu ostavimo – Komm Jana, laß uns das Kämpfen beenden
Ajde Jano, puške napustimo – Komm, Jana, lassen wir die Waffen liegen
Ajde Jano, sreću potražimo – Komm, Jana, laß uns das Glück suchen

Vereinzelt war die Begeisterung groß: die heimischen Ethnomusikologen könnten einpacken, am Bostoner Musikkonservatorium (wo Ms. MacKenzie studierte) wäre die Originalfassung des Liedes aufgetaucht und von ihr auf CD gebannt worden (5) Andere rieten zur Vorsicht bei solchen Aussagen, und zu Recht. Talitha MacKenzie meldete sich persönlich zu Wort: Sie hatte den Text während des Balkankonfliktes neu geschrieben, als sie mit der Edinburgh Direct Aid to Bosnia arbeitete. Jahre später trat eine Theatergruppe aus Belgrad beim Edinburgh Festival auf, die MacKenzies Liedversion als Finale ihrer Aufführung sang. Der Zirkel schloß sich wieder. (6)
Manche Tanzgruppen verwenden die Aufnahme von Talitha MacKenzie, um Ajde Jano darauf zu tanzen. Ein kosovarisches Stück in stark keltisch gefärbtem Arrangement mit neu verfaßtem Text zu – wie allgemein angenommen wird – traditionellem Tanz? Darüber kann man sich gerne wundern. Ob der Tanz aber wirklich traditionell ist? Dazu kommen wir gleich.

Was ist es nur mit diesem kleinen Lied, daß es immer wieder als Projektionsfläche herhalten muß? Nach dem Auftauchen des vermeintlich originalen Friedenstextes behaupten jetzt andere, der Text wäre in seiner Bedeutung umgekehrt worden: Statt „laß uns das Haus verkaufen“ hätte es ursprünglich geheißen „laß uns das Haus NICHT verkaufen“ – und Entsprechendes in den anderen Strophen – man könne ja nicht tanzen, wenn alles weg und verkauft wäre. Mal seien die Kommunisten an der Änderung schuld (7), mal die Zeitläufte (8). Sicher ist, daß der Musiker Asim Sarvan mit dieser geänderten Textfassung („Ajde Jano, kuću da ne damo“) im Jahr 2007 eine Flagge hissen wollte für die alten Werte Serbiens, für Glauben und Tradition. Ob es dabei hilft, alte Lieder kurzerhand zu kommunistisch beeinflußten Neubearbeitungen zu erklären und sie vermeintlich zurückzuführen zum Original, aber unterm Strich lediglich zu dem Sinngehalt, der einem am liebsten wäre? Auffällig ist immer wieder die unkritische Begeisterung, mit der solche unbelegten Aussagen aufgenommen werden – das Bedürfnis nach sinnstiftenden Inhalten ist dem Menschen inhärent und zeigt sich zunehmend ausgeprägter. Man darf spekulieren, ob Asim Sarvans Version in zwanzig Jahren allgemein als „Original“ präsentiert werden wird.

Und woher stammt der Tanz?

Was in der Region von Kosovska Mitrovica an Hochzeiten zu Ajde Jano getanzt wurde, haben wir leider bisher nicht herausfinden können; sogar dem Tanz-Weisen Dick Crum war dies trotz ausgiebiger Recherchen nicht gelungen. Anhand der Aufzeichnungen der Schwestern Janković (9) läßt sich jedoch vermuten, daß es sich um einen einfachen Tanz des Lesno-Typs gehandelt haben könnte.

Die in Folkloretanzkreisen allgemein bekannte Choreographie wurde erstmalig 1957 von Anatol Joukowsky beim kalifornischen Stockton Folk Dance Camp vorgestellt (hier die Tanzbeschreibung). Als Quelle für den Tanz gab er das Buch „Serbian Folk Melodies (South Serbia)“ von V. Gorgevich aus dem Jahre 1928 an. Der Haken daran ist nur, daß dieses Buch (eigentlich „Srpske narodne melodije (Južna Srbija)“ von Vladimir Đorđević, Skopje 1928) eine reine Lieder- und Notensammlung ist und keine einzige Tanzbeschreibung enthält – übrigens auch keine Liednotation von Ajde Jano. Immerhin stimmte der regionale Bezug.

Was lief hier verkehrt? Eine mögliche Erklärung wäre die, daß Herr Joukowsky Mara Đorđević, die Sängerin der von ihm verwendeten Aufnahme auf Jugoton C-6447, mit Vladimir Đorđević, dem Autor des Buches, verwechselte. Diese Annahme wird noch dadurch bestärkt, daß auch Joukowskys Tanzbeschreibung von Karanfile (im Syllabus der Santa Barbara Folk Dance Conference 1957) den Quellenhinweis auf das Đorđević-Buch enthält – Karanfile ist Mara Đorđevićs Lied auf der anderen Plattenseite von Jugoton C-6447 und ebenfalls nicht im Buch vertreten.

Woher hatte Anatol Joukowsky aber den Tanz zu Ajde Jano? Zeitgenossen zufolge choreographierte er gerne selbst oder kombinierte und „verschönte“ traditionelle Tanzelemente zu besserer Bühnenwirksamkeit – als ehemaligem Ballettmeister lag ihm das besonders am Herzen. Insofern kann man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß es sich um eine Originalchoreographie Joukowskys mit südserbischen oder nordmakedonischen Elementen handelt.

Eine Sache jedoch ist offensichtlich: Während viele der heutigen Tänzer und Tanzlehrer sich bei den Schritten zu Ajde Jano im Großen und Ganzen an der Joukowsky-Choreographie orientieren (zumindest eine Ausnahme bildet Vladimir Tanasijević), ist etwas mit den Armen passiert.

Anatol Joukowsky beschreibt als Grundhaltung die Hände gefaßt und herunterhängend, also in V-Fassung. Beim Tanzen in die Mitte heben sich die Arme zur W-Fassung und werden beim Zurückgehen wieder herabgesenkt. Bei Steve Kotansky, Francis Feybli und Michel Hepp z. B. sieht man es genau andersherum: erst W-Fassung, zur Mitte hin Absenken der Arme in V-Fassung und zurückgehend wieder in die W-Fassung.

Ebenso verschwanden Joukowskys Angaben zur Haltung – stolze aufrechte Körperhaltung, jeder Schritt wird mit einem Plié durchgeführt (also leicht im Knie gefedert), das Gewicht liegt auf dem Fußballen, mit der Ferse knapp über dem Boden. Die Angaben zur Fußbelastung und –haltung fehlen bereits in der reproduzierten Beschreibung in der von Vyts Beliajus herausgegebenen Tanzzeitschrift Viltis vom Oktober 1957. Die Tanzbeschreibung zur Folkraft-Platte, mit großer Wahrscheinlichkeit entweder von Dennis Boxell oder Rickey Holden ca. 1964 geschrieben, läßt ebenfalls alle spezifischen Angaben zur Fußhaltung aus und verändert die Armhaltung wie bereits erwähnt. Es besteht die Möglichkeit, daß der Verfasser der Folkraft-Tanzanleitung Ajde Jano ohne weitere Nachforschungen von amerikanischen Tänzern übernahm und Joukowskys Autorenschaft überhaupt nicht im Blick hatte (10).

Da Anatol Joukowsky auch in seinem Buch „The Teaching of Ethnic Dance“ (1965) und beim Stockton Folk Dance Camp 1972 seine Choreographie unverändert reproduzierte, kursierten also zeitgleich zwei verschiedene Tanzversionen in den USA – bis heute. Die modifizierte Folkraft-Version wurde dann auch nach Westeuropa exportiert.

Mit Ajde Jano haben wir ein erstklassiges Beispiel für die Effekte ungenauer Weitergabe choreographischer Details. Durch das wiederholte Kopieren und Neufassen der originalen Tanzbeschreibung durch weitergebende Tanzlehrer unter Auslassung typischer Besonderheiten, die Anatol Joukowsky am Herzen lagen, verschwanden neben der generellen Körperhaltung und der Fußbelastung und -haltung auch z. T. Hinweise auf jegliche Armhaltung (11). Vermutlich wurden die Arme von ausführenden Tanzgruppen in Ermangelung entsprechender Information „irgendwie passend“ bewegt; und schon entstand wieder in den USA oder in Westeuropa eine neue Tanzbeschreibung eines vermeintlich serbischen oder kosovarischen Tanzes.

Wie in dem bekannten Kinderspiel der „Stillen Post“ haben wir am Ende eine Version, die mit Anatol Joukowskys ursprünglicher Choreographie von Ajde Jano nur noch entfernt verwandt ist – nur mit dem Unterschied, daß wir beim Tanzen davon nichts ahnen. Wie denn auch, wenn immer nur der letzte Übermittler, nie aber der Urheber bekannt ist, geschweige denn seine Version? Schön wäre es, wenn publizierende Tanzvermittler sich das Recherchieren angewöhnen würden.  

(2) Vasiljević, M. A. – Narodne melodije s Kosova i Metohije. Belgrad 2003

(3) http://www.riznicasrpska.net/muzika/index.php?topic=180.msg744#msg744

(4) https://www.discogs.com/de/Mara-%C4%90or%C4%91evi%C4%87-Karanfile-Ajde-Jano/release/6231632

(5) http://www.sustinapasijansa.info/2012/10/muzika-za-popodne-hajde-jano-da-vec-jednom-naucimo-tekst-te-pesme/

(6) [I rewrote the lyrics during the Balkan conflict while working with the charity Edinburgh Direct Aid to Bosnia. Several years later, a theatre group from Belgrade came to the Edinburgh Festival and sang my version of the song as the finale to their performance. What goes around comes around… ] in den Kommentaren zu https://www.youtube.com/watch?v=RrfiMtnahsY

(7) http://www.srpskaistorija.com/da-li-ste-znali-kako-je-nastala-pesma-ajde-jano-kucu-da-prodamo/

(8) http://www.sacredearthnetwork.net/video/ajde-jano-a-song-that-was

(9) Quelle: Diskussion über Ajde Jano im Listserve des East European Folklife Centers (eefc) am 15.06.2008
Erwähnung der erfolglosen Recherchen Dick Crums durch Michael Kuharski.
Aus dem Kommentar von Robert Leibman:
Jankovic, Ljubica & Danica – Narodne igre II; Belgrad 1937. 
Die Tänze Nr. 6 – 26 in dieser Sammlung stammen aus Kosovska Mitrovica, die Beschreibungen derjenigen Tänze im 3/4-Takt (frühe serbische Musikologen notierten generell 7/8 als 3/4) sind alle vom Lesno-Typ.

(10) Quelle: Korrespondenz mit Ron Houston, Society of Folk Dance Historians (SFDH), im Juni und Juli 2016

(11) Dutzende Ajde-Jano-Beschreibungen verschiedener Tanzlehrer aus 40 Jahren, freundlicherweise überlassen von Ron Houston.