Dâlgata – oder: Wie kommt das Mädchen zu den Blutegeln?

Wer sich eingehender auf die Texte bulgarischer Tanzlieder einläßt, erlebt manchmal Überraschungen. Im Text zu dem bulgarischen Tanz Dâlgata (Belčo Stanev 2003) hört man beispielsweise die folgenden Zeilen: 

Die Augen meiner Liebsten, liebe Mutter, sind [wie] schwarze Kirschen (cârni čereši: Севдините очи, мила мамо, църни са череши).

Die Brauen meiner Liebsten, liebe Mutter, sind [wie] Blutegel (morski pijavici: Севдините веги, мила мамо, морски пиявици). 

Die Figur meiner Liebsten, liebe Mutter, ist [wie] eine schlanke Pappel (tenka topolova: Севдината снага, мила мамо, тенка тополова). (1) 

Die schwarzen Kirschen für die Mädchenaugen und die schlanke Pappel für ihre Figur mögen noch durchgehen – aber Augenbrauen wie Blutegel? 

Generell sind solche Vergleichsbilder aus der Natur in den Liedern Bulgariens und Makedoniens beliebt. Man trifft sie häufig an in diversen Varianten, auch der Schnee wird herangezogen für ein weißes Gesicht oder der Apfel mit seinen roten und weißen Farben – Bsp.: Mari Marijko, Petrunino (2)

Pollok nennt ferner u.a. „Haar wie Grasklee” und „Augen wie zwei klare Quellen”. „Augenbrauen wie Meeresblutegel” zitiert er aus zwei Liedern. (3)

Woran wir zweierlei erkennen können: Erstens gelten – oder galten – im dörflichen Bulgarien und Makedonien schwarze, kräftige und elegant geschwungene Augenbrauen als sehr attraktiv. Solche betont starken Augenbrauen können wir auch bei den jüngeren Frauen aus dem orientalischen Kulturkreis beobachten, die in den letzten Jahren vermehrt zu uns gekommen sind. 

Zweitens – und das ist die Überraschung – eignet der Blutegel sich mit seiner schwarzen, kräftigen und gebogenen Gestalt für einen Vergleich mit diesem Schönheitsmerkmal und kommt dadurch in den Genuß einer besonderen Wertschätzung, wenn auch nur unter einem ästhetischen Blickwinkel. 

Was einen biologisch halbwegs eingeweihten Leser allerdings stutzig macht, ist Polloks Übersetzung „Meeresblutegel”: Wie kommt denn nun ein Blutegel ins Meer? Egel leben im Süßwasser in stehenden Gewässern, in Teichen, Sümpfen und manchmal auch im Brackwasser. (4) Polloks Ausdruck rührt von der bulgarischen Bezeichnung морски пиявици – morski pijavici her, die er wortwörtlich übersetzt als „Meeresblutegel” (morski von morè – Meer). Forscht man nach der bulgarischen pijavica in Wörterbüchern und Enzyklopädien, findet man sie im biologischen Kontext nur ohne den Zusatz „morska”, und wenn ein Eintrag dennoch einmal „morski pijavici” erwähnt, dann nur im Zusammenhang mit der Volkspoesie (нар. поез.), als Metapher für schöne Augenbrauen (веѓи). (5) Najden Gerov nennt morski pijavici ebenfalls nur im Zusammenhang mit Brauen (vegi). (6) Der Ausdruck „morski pijavici” ist also nicht biologisch, sondern poetisch zu verstehen und sollte daher nicht Wort für Wort übersetzt werden. Er ist zu einer formelhaften Wendung erstarrt, die in mehr als einem Lied anzutreffen ist, mit ausschließlichem Gebrauch zur Beschreibung weiblicher Augenbrauen:

„Bei dieser Umschreibung ist die Verbindung von bildspendendem und bildempfangenden Feld so fest geprägt, daß sie den Charakter einer formelhaften Wendung angenommen hat“ (7)

und niemand denkt dabei mehr an das lästige Tier. Was Pollok dabei anscheinend nicht bewußt ist: Diese formelhafte Wendung existiert nur noch im „bildempfangenden Feld” (der Poesie) und ist aus dem „bildspendendem Feld” (der Fauna) verschwunden. Dort muß es sie aber (irgendwie, vielleicht anders) gegeben haben, wohingegen sie heute, als sog. „Meeres-Egel” im schönen Mädchengesicht überlebt. 

Nun wagen wir uns – der Leser möge verzeihen – tief in die Sprachgeschichte vor: Es könnte eine alte etymologische Verbindung zwischen den Gewässern „Meer” und „Teich” geben. Die Wortverwandtschaften in den indoeuropäischen Sprachen zeigen für das idg. *mari ein weiteres Bedeutungsfeld „Meer/See/Teich” als die enge Bedeutung „Meer“ des bg. more: dt. Maar und Moor, frz. mare (Teich) und mehrere Vorkommen im Urslawischen, Russischen, Litauischen mit der Bedeutung „See”. (8)

Man darf also, so glauben wir, die Schönheit signalisierenden morski pijavici als Teich-Egel auffassen. 


(1) Der vollständige Text dieser Fassung siehe Dâlgata auf herwigmilde.de/Tanzbeschreibungen

(2) Ebenda: Mari Marijko, Petrunino

(3) Pollok, Karl-Heinz: Zum Gebrauch der Metapher in den balkanslawischen lyrischen Volksliedern. Göttingen 1963, S. 203

(4)  „Nur wenige Arten der Egel haben sich dem Leben im offenen Meer, also dem Salzwasser angepasst.” (http://tierdoku.com/index.php?title=Egel). Diese wenigen maritimen Arten dürften wohl kaum Eingang in die bulgarische Lyrik gefunden haben.

(5) Digitales Wörterbuch der makedonischen Sprache www.makedonski.info: (нар. поез.) Веѓи има морски пијавици.

(6) Najden Gerov – Wörterbuch der bulgarischen Sprache – Речник на Блъгарскый языкъ – Plovdiv 1895-1904

(7)  Pollok, K.-H. 1963 S. 190

(8) S. Bulgarisches etymologisches Wörterbuch (Български Етимологичен Речник http://ibl.bas.bg/ber/) Bd. 4 S. 240 f: морèmorè: u.a. urslaw. *marje verwandt mit litauisch mārè, marià „See, Bucht, Meer“; weitere Belege im Russischen, Althochdeutschen, Altenglischen mit der Bedeutung „See”; vgl. auch dt. „Steinhuder Meer” u.ä.; Kluge: Etymologisches Wörterbuch S. 549: ig. *mari „See, Meer“.

 

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