Die Tradition im Blick – spaßfreie Zone?

Eine Momentaufnahme

Jüngst führte ich eine hitzige Diskussion mit einem langjährigen Folkloretänzer. Er berichtete von einer nicht-folkloristischen Faschingsveranstaltung, auf der er ausgiebig und mit Begeisterung Line Dance getanzt habe. Ich erwähnte, daß es verschiedentlich Versuche gegeben habe, bei unseren Folklore-Tanzveranstaltungen Line Dance anzubieten, aber daß wir das nach Möglichkeit vermeiden würden, da es ein ganz anderes Tanzgenre sei. Wieso, wollte mein Gegenüber wissen. Es würde zu Country Music getanzt, also wäre das doch Folklore.

Nun kann man darüber diskutieren, ob Country Music Folklore sei oder nicht, beziehungsweise welche Untergruppe noch traditionell orientiert ist und welche wiederum reiner Pop – und somit im Traditionsgehalt vergleichbar mit der volkstümlichen Musikantenstadl-Musik hierzulande. Zudem wäre da noch die Frage, ob blockweise aufgestellte, durchchoreographierte Synchronbewegungen in jedem Fall als traditioneller oder Folkloretanz durchgehen. Das war aber nicht unser Thema.
Das Wichtigste am Tanz sei doch der Spaß, wurde ich vehement und lautstark informiert; der Folkloretanz sei da nicht ausgenommen. Tanz jeglicher Art soll durchaus Spaß machen; diese Meinung teile ich voll und ganz. Gerne hätte ich aber gewußt, ob das Spaßhaben vom Blick auf die Traditionen von Tänzen und Musiken befreit. Es macht schon einen erheblichen Unterschied, ob mal ein Folkloretanz persifliert oder beim Tanzen herumgejuxt wird, oder ob häufiger Details, Stil, Hintergründe von – mehr oder weniger – traditionellen Tänzen beiseite gewischt und ignoriert werden, weil sie nicht in das gerade angestrebte Spaßspektrum passen. Das sei verbohrt und engstirnig, bekam ich daraufhin zu hören. Es mache keinen Spaß, sich beim Tanzen an Regeln zu halten.
Und wenn die Regeln in Form des überlieferten Stils, der Haltung, der Art zu tanzen gerade den Charakter des Tanzes widerspiegeln, und wir aus genau diesen Gründen Folkloretanz lieben und machen, weil das Material so speziell ist? Die Antwort darauf blieb mir mein Gesprächspartner schuldig.

Er merkte aber noch an, daß die Tänze, die wir als vermeintlich traditionell lernen, ohnehin alle nicht echt seien. Das trifft teils zu, teils aber überhaupt nicht. Eine mögliche Diskussion, die sich daraus entwickeln könnte, wäre, welche Kriterien erfüllt sein müßten, um einen Tanz als traditionell oder original serbisch, französisch, israelisch bezeichnen zu können.
Hier zumindest schien mir die im Brustton der Überzeugung vorgebrachte Annahme des Nicht-Echten wiederum als Freibrief zu gelten, sich um des subjektiv gesteigerten Spaßgefühls willen bar jeder Tradition austoben zu können. Das ist immerhin ein für mein Gegenüber authentischer und damit legitimer Aspekt des Zugangs zu Folklore: Tänze aus anderen Ländern als primäres Vehikel des Spaßhabenwollens. Das Verständnis von Folkloretanz und -musik und das Glücksgefühl einer selbstgenügenden Tätigkeit (Flow), die daraus entstehen können, wenn man sich – soweit, wie es bei der eigenen Kultur fremdem Material geht – darauf einläßt, bleiben ihm möglicherweise verborgen. Gerhard Schulze schreibt in seinem wegweisenden Buch „Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart“ (Frankfurt 2005), S. 105: „Zweifellos hat ästhetische Praxis subjektive Bedeutungen, die über den bloßen Spaß an der Sache herausreichen […]. Aber Vergnügen und Mißvergnügen, Faszination und Langeweile, Anziehung und Angewidertsein bilden eine wichtige Schicht von Erfahrungen, durch die wir uns in der Welt ästhetisch orientieren. Man muß die lapidare Begründung „weil es mir eben Spaß macht“ ernst nehmen, um persönlichen Stil zu verstehen.“

Wiegt aber persönlicher Stil und in diesem Fall der ungehemmte Spaßfaktor Traditionsbewußtsein auf? M. E. nicht, und ich halte das Im-Blick-Haben von Traditionen auch für keine bitterernst-verkniffene Angelegenheit, sondern für eine Chance; sogar für eine Verpflichtung. Hier haben wir zum einen die Möglichkeit, Aspekte von Geschichte und Kulturen zu erfahren, eigener Kreativität eine breite Basis zu schaffen, unserem Tun ein gewisses Fundament zu geben bzw. das vorhandene Fundament zu stärken. Es eröffnen sich ganze Welten – wenn man bereit ist, hinzuschauen.
Zum anderen gehen wir durch die – immerhin freiwillige – Beschäftigung mit internationalem Folkloretanz eine Bindung zur traditionellen Kultur Anderer ein, der wir es schulden, sie entsprechend zu würdigen und zu berücksichtigen. Ein angemessener Ansatz wäre, Spaß beim Tanzen zu haben, weil man sich an der jeweiligen Tradition orientiert und sich darauf einläßt; nicht, anstatt sich daran zu orientieren. Ein Sich-Einlassen ermöglicht es obendrein, vertrauter und damit entspannter mit den traditionellen Elementen umzugehen, um diese nicht länger, wie mein Gesprächspartner, als engstirniges Regelwerk wahrzunehmen, sondern als das, was sie sind: ein integraler Bestandteil des Tanzes.

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