Joc de leagăne: „ein alter, traditioneller Tanz“ 

Als ich neulich bei einem Tanzunterricht hörte: „Joc de leagăne, „ein alter, traditioneller Tanz von Theodor Vasilescu“, wurde ich hellhörig. Wer Vasilescus eigenwillige Choreografien und insbesondere seine heftige Auseinandersetzung mit einem europäischen Tanzlehrer und Spezialisten für rumänische Tänze kennt, wer über deren Streit um die Frage, wie „authentisch“ oder „ursprünglich“ „seine“ Tänze sind, sowie darüber, inwiefern er sie überhaupt als „seine“ Tänze beanspruchen kann, wenn es doch überliefertes Kulturgut aus den rumänischen Dörfern ist – wer darüber Bescheid weiß, der vermutet leicht einen starken Widerspruch zwischen der Quellenangabe „von Theodor Vasilescu“ und der Einordnung als „alter, traditioneller Tanz“. Der entrüstete Rumänien-Spezialist aus Europa jedenfalls berichtete dann, dass nicht ein einziger von „Vasilescus“ Tänzen irgendwo in einem rumänischen Dorf anzutreffen sei. Theodor Vasilescu hat jedoch nie ein Geheimnis aus seinen Quellen gemacht: Aufführungen auf Festivals, Feldforschung in den Dörfern, Kollegen (Ethnomusikologen) und eigene Choreografien aus dem choreografischen Material der betreffenden Regionen.  

Allerdings muss man auch einräumen, dass in der aufgeregten Authentizitätsdebatte im Westen eine Menge Missverständnisse, divergierende Begriffsdefinitionen und unrealistische Sichtweisen im Spiel sind. Schon die Herkunft der Folkloretänze, die in der IRFDC (1) getanzt werden, „aus einem bestimmten Dorf“ ist ein Mythos, wie Radboud Koop ausführlich in einem Paper (2024) darlegt. (2) 

Ist also dieser Joc de leagăne „von Vasilescu“ ein alter, traditioneller Tanz? Dieser Frage wollen wir nachforschen. 

Sehr ausführliche Informationen rund um Joc de leagăne finden interessierte Leser auf Don Buskirks Folkdancefootnotes. Wir werden z.T. auf sie zurückgreifen. 

Die Bedeutung des Namens

Über die Bedeutung des Tanznamens „Joc de leagăne“ gibt es wie immer in der Freizeittanzszene eine Reihe unterschiedlicher Meinungen. Don Buskirk kommt ihm schon sehr nahe mit seiner Übersetzung „Tanz der Wiege“ (3) Auch die Übertragung „Wiegentanz“ trifft es ziemlich gut, denn leagăne ist der Plural von leagăn – Wiege. Was nun aber ein „Wiegentanz“ sein könnte, darauf kommen wir noch zurück. 

(Wir wollen es als eine Fußnoten-Nebenbemerkung stehen lassen, dass Michel Hepp in seiner Tanzbeschreibung (s.u.) die Aussprache des rumänischen Wortes Joc mit „Schock“ wiedergibt – wahrlich ein Schock für sprachsensible Haarspalter wie wir!) 

Das Lied

Die Popularität des Tanzes ist sicherlich zum großen Teil dem Lied in gemächlichem Tempo geschuldet, das a cappella beginnt und nach und nach ergänzt wird durch Bass, Țambal, Klarinette, Geigen, und sich mehrstimmig entfaltet. 

Der Text lautet: 

1. // Mama cînd m-o legănat, //
// Numai de dor mi-o cîntat. //
2. // Mi-o cîntat de dor şi-o plîns. //
// Dorul de mine s-o prins. //
3. // De cînd port dor la inimă. //
Numai am nici o hodină, nici la prînz şi nici la cină.
4. // Cîte doruri răle-s grele. //
// Tăte-s pă braţele mele. //
5. // Altul moare de bătrîn. //
// Nu şti dorul de ce-i bun. //
6. // Dar eu ştiu că l-am purtat. //
// De cînd mama mi-o cîntat. //
7. Ai lai lai lai lai lai la, ai lai lai…

1. Als meine Mutter mich wiegte, sang sie mir nur von der Sehnsucht.
2. Sie sang mir von der Sehnsucht und weinte. Die Sehnsucht hat mich ergriffen.
3. Seitdem trage ich die Sehnsucht im Herzen. Ich habe keine Ruhe mehr, weder mittags noch abends (wörtlich: weder beim Mittag- noch beim Abendessen).
4. So viele schlimme Sehnsüchte liegen schwer auf meinen Armen.
5. Mancher stirbt alt. Er weiß nicht, wozu die Sehnsucht gut ist.
6. Aber ich weiß es, weil ich sie trug, seit meine Mutter mir vorgesungen hat.
(Q.: folkloretanznoten.de)

Andere Übersetzungen (FDFC Wilder/Ruling 1988, Bärbel Loneux 1995, Michel Hepp 1999) enthalten erhebliche Abweichungen vom Original, z.T. Sinnentstellungen und Missverständnisse; wir empfehlen daher die obenstehende Übersetzung. Der Text ist bei Bärbel Loneux (1995) Überschrieben mit „Cîntec de Leagan“ – dt.: Wiegenlied. Wir wissen nicht, ob wir uns dabei vorstellen sollen, dass eine Mutter ihrem kleinen Kind dieses tieftraurige Klagelied vorsingt, damit es einschläft. Auch darauf kommen wir noch zurück. 

Die oben erwähnte Notenseite nennt als Vorlage „Mama cînd m-o legănat“ der Folklore-Gesangsgruppe „Mioriţa”, dir. George Vancu, aus der LP „Coborîi din deal în vale“, Electrecord EPE 01797 (1981). Die LP „Jocuri Populare Românesti III“ von Bärbel und Jacques Loneux (Electrecord ST-EPE-04371) enthält einen „Jocul ‚Leagănele’ din Dragomireşti“ eines „group vocal ‚Mioriţa‘“. Das ist dieselbe Aufnahme wie Electrecord EPE 01797, ebenso wie auch die auf Michel Hepps Tänze im Kreis 2. Fidula gibt auf dem Booklet keine Auskunft über die Musiker und Orchester; der Verlag nennt lediglich den Lizenzgeber Electrecord. Eine weitere Ausgabe: LP Jocuri Populare Românești (Romanian Folk Dances), Electrecord CS 0185 (1985). 

Der Tanz

Die folgenden schriftlichen Tanzbeschreibungen liegen uns vor: 

Theodor Vasilescu gibt zu seiner Erstveröffentlichung 1982 (lt. Erik Veenstra 2020) die Herkunft Dragomireşti/Maramureş an. So schreibt auch Bärbel Loneux, jedoch ohne ihre Quelle zu nennen. Susan Hatlevig ergänzt: „… Er [T. V.] lernte den Tanz von einer Frauengruppe bei einer Aufführung in Dragomiresti. (4) Vasilescus Quelle ist also eine Aufführung auf einer Bühne. Nicolaas Hilferink lernte den Tanz 1982 von T. Vasilescu in Baia Mare und verhalf ihm anschließend zu weiter Verbreitung in den USA (s. Stockton Folk Dance Camp (SFDC) Syllabus 1988). Auch Bärbel und Jacques Loneux haben ihn (sehr wahrscheinlich, wie den größten Teil ihres rumänischen Repertoires dieser Zeit) von T. Vasilescu gelernt und mit ihrer LP ab 1995 in Belgien, Deutschland und Österreich weitergegeben. 

S. Hatlevig und D. Buskirk berichten, dass T. Vasilescu mit der Art, wie Joc de leagăne in den USA getanzt wurde, nicht einverstanden war: „Er sah, wie dieser Tanz 1992 im Stockton Folkdance Camp durchgeführt wurde. Er erkannte, dass es nicht richtig war.“ (a.a.O.) Es ist daher zu empfehlen, auf Vasilescus Videoaufnahmen (Video Tape N° 1, Track 13) zurückzugreifen. 

Über den Ursprung des Tanzes stellt Don Buskirk auf seinen Folkdancefootnotes umfangreiche Überlegungen an und beschreibt nach seinen Internetrecherchen andere Versionen, darunter

„… eine auftretende Gruppe, die auf YouTube als Gesangsgruppe bezeichnet wird, die einfachere, eher „Dorf“-Schritte macht, während sie die Melodie singt, aber nicht die Texte, die RFDs präsentiert werden. Obwohl das Lied wahrscheinlich ein Volkslied ist, kann es Zweifel geben, ob der Tanz, der RFDs gezeigt wurde, ein „Dorf“-Volkstanz ist. Es könnte die stilisierte Präsentation eines Volksliedes einer auftretenden Gruppe sein.“ (5)

Michel Hepp gibt für seine Tanzbeschreibung Theodor Vasilescu als Quelle an, nennt jedoch – abweichend von Vasilescu – Transsilvanien als Herkunftsregion.  

Der rituelle Kontext

Bärbel Loneux nennt Joc de leagăne einen „Mädchentanz“; ebenso Michel Hepp: „Kreistanz für Mädchen“. Beim näheren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es sich um einen Frauentanz handelt. Beide erklären nämlich, dass der Tanz den Hebammen gewidmet ist und die Tänzerinnen sich für die Hilfe und Unterstützung bei ihren Entbindungen bei ihrer Hebamme bedanken. Entsprchende Informationen finden sich in allen verfügbaren englischsprachigen Tanzbeschreibungen, sowie in Vasilescus Videoaufnahme (s.u.). 

Die Tanzbeschreibung zu N. Hilferinks Version ergänzt, dass dabei ein Kind im Alter von ein bis eineinhalb Jahren von seiner Mutter in einer tragbaren Wiege (rum. leagăn) am Körper getragen wird, um zu zeigen, dass ihr Kind stark und bei guter Gesundheit ist. In einem seiner Tanzvideos gibt T. Vasilescu im Anschluss an seine Vorführung des Tanzes Erläuterungen über den Ablauf des Festes, die Bedeutung der Hebamme im vorindustriellen Dorf und über die Beziehung der jungen Mütter zur Hebamme. Don Buskirk nennt Gail Kligman: The Wedding of the Dead, University of California Press, 1988, als ausführliche, detaillierte Informationsquelle über das Fest, die sărbătoarea nepoatelor. Wie vielschichtig ursprünglich der Sinngehalt dieses Zeremoniells war, ist an seiner Bezeichung ansatzweise abzulesen, wörtlich: Fest der Enkel (oder auch „der Nichten“; damit sind die jungen Mütter gemeint). Mit dem Begriff „Hebammentag“ wird der Fokus verengt; es geht tatsächlich um mindestens drei Gruppen: die Kinder, die Mütter und die Hebamme(n). 

Kommen wir nun zurück zu unserer Eingangsfrage, ob dieser Joc de leagăne, wie Theodor Vasilescu ihn übermittelt hat, als „alter, traditioneller Tanz“ bezeichnet werden kann. Festzuhalten ist, dass Vasilescu eine Bühnenpräsentation aufgegriffen hat. Weiterhin nehmen wir aus Erfahrung an, dass Vasilescu die Choreografie mindestens überarbeitet und eine passende Musik dazu ausgewählt hat. Ferner gliedert der Tanz sich in ein rituelles Geschehen ein, das mindestens in Resten noch in Rumänien lebendig ist. So haben wir es zwar mit einem alten, traditionellen Brauch zu tun, aber mit einer jungen Version des Tanzes, die mindestens für die Bühne, wenn nicht auch für die IRFDC arrangiert worden ist. Das Missverständnis über die „alte, traditionelle“ Herkunft des Tanzes geht mit Sicherheit auch auf ein weitverbreitetes Bedürfnis in der IRFDC zurück, in der Folklore etwas Romantisches, Ursprüngliches zu finden – das „Unbehagen in der Kultur“ der Moderne, der eine echte, ursprüngliche Romantik weitgehend abhandengekommen ist. 

Unseren Beratern Laura Brinzan und Radboud Koop sind wir dankbar für ihre engagierte Unterstützung, hilfreiche Informationen und wertvolle Hinweise.


(1) die Freizeittanzszene, engl. International Recreational Folk Dance Community; die Tänzer: RFDs.

(2) „Viele IRFDC-Teilnehmer glauben, dass die Tänze in ihrem Repertoire aus traditionellen Quellen stammen, die oft „Dörfern“ in den Herkunftsländern zugeschrieben werden. Dieses Papier wird darlegen, dass aufgrund eines mehrschichtigen Transformationsprozesses, in dem mehrere Agenten eine Rolle spielen, dieser Glaube an eine „Dorf“-Quelle weitgehend ein Mythos ist, den viele IRFDC-Leiter oft entweder nicht kennen oder ihn nicht bedenken wollen. Die Erfindung von „Fantasy“-Tänzen in letzter Zeitz durch Akteure im IRFDC, für die sie die Urheberschaft beanspruchen, während sie ihnen gleichzeitig fälschlicherweise einen traditionellen „Volkstanz“-Ursprung zuschreiben, unterstreicht, wie das IRFDC-Repertoire von den lebenden Volkstanzpraktiken in den Herkunftsländern abweicht.“ 

(„… many IRFDC participants believe the dances in their repertoire to originate from traditional sources, often referred to as “villages” in the source countries. This paper will argue that, due to a multi-layered transformation process, in which multiple agents play a role, this belief in a “village” source is largely a myth, of which many IRFDC leaders are often either unaware or not willing to reconsider. The recent creation of “fantasy” dances by actors in the IRFDC for which they claim authorship while, at the same time, incorrectly attribute a traditional “folk dance” origin, underlines how the IRFDC repertoire is diverging from the living folk dance practices in the source countries.“)
Paper für das Symposion 2022 der Study Group on Ethnochoreology des International Council for Traditions of Music and Dance in Brežice, Slovenia.

(3) „Joc de Leagane, (ZHOK deh LAH-guh-neh), literally means Dance of the Cradle.“
LAH-guh-neh“ gibt die Aussprache des rumänischen „leagăne“ nicht korrekt wieder. In der ersten Silbe ist vor dem „a“ ein schwaches „j“ zu hören [ˈle̯a.ɡə.ne].

(4) Susan Hatlevig @ Folkdancefootnotes. Es war eine Gruppe aus Dragomireşti.

(5) „… a performing group identified on the YouTube as a singing group doing simpler, more “village” steps, while singing the melody, but not the lyrics presented to RFD’s. Though the song is likely a folk song, there can be doubt whether the dance shown to RFD’s is a “village” folk dance. It could be a performing group’s stylized presentation of a folk song.“ a.a.O.

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