Folklore im Wandel – 5
Die zahlreichen vorliegenden Tanzbeschreibungen für den bulgarischen Pravo horo (‚gerader Reigenʻ oder ‚einfacher Reigen‘ (1)) stimmen trotz aller regional unterschiedlicher Varianten in den Grundschritten überein. Was jedoch auffällt, ist die Uneinheitlichkeit der Taktangabe. Pravo horo wird mal als ein Tanz in 2/4 beschrieben, mal in 6/8, oder es heißt, es seien beide Taktarten möglich. Gelegentlich liest man von einem 4/4-Takt (2). In der englischen Wikipedia wird sogar behauptet, daß Gesangsparts in 2/4 und die schnelleren Instrumentalzwischenspiele in 6/8 stehen – das wäre auf dem Notenblatt ein optisch recht unruhiges Geschehen und entspricht zudem nicht der Realität. Immerhin räumt der Autor ein, daß in Bulgarien auch die 6/8-Teile als 2/4 mit Triolen notiert werden. Dies wirft die Frage auf, warum Pravo horo außerhalb des Ursprungslandes anders aufgeschrieben werden soll als dort üblich.
Allerdings herrscht, dieses Thema betreffend, auch in Bulgarien eine gewisse Uneinigkeit.
Zahlreiche Musikwissenschaftler befaßten sich im Laufe der Jahre mit Beschreibung und Klassifikation der vielfältigen Taktkombinationen der traditionellen Musik. Ein grundlegendes Werk stammt von Stojan Džudžev, einem Folkloristen und renommierten Musikologen (3). Džudževs Bezeichnung des Pravo-horo-Rhythmus ist jedoch nicht einheitlich. Zwar stellt er eingangs den 2/4-Takt als charakteristisch für Pravo horo vor, spricht sich dann aber in seiner Abhandlung für eine Notation des Pravo horo in 6/8 aus, also für eine Kombination von (3 + 3)/8.
Dem entgegen stehen die Auffassungen weiterer namhafter Folkloristen und Tanzforscher, die den Pravo horo, ausgehend vom Grundrhythmus, ausschließlich in 2/4 notieren (4). Zwar erklingt der Pravo horo oft mit triolisch verzierter Melodie, es kann sogar ein komplettes Stück in Triolen notiert sein, darunter liegt aber immer eine Begleitung in 2/4, die ihrerseits nicht triolisch ist, wie zahlreiche alte Aufnahmen beweisen. Auch Boris Kremenliev, der sich bei seiner Beschreibung der Unterteilung der Taktarten vollständig an Džudževs Theorie (s.o.) orientiert, notiert Pravo horo dennoch in 2/4 und nicht in 6/8. (5).
Das besondere Merkmal des Pravo horo sind die vielfach triolischen Melodieelemente, die in anderen bulgarischen 2/4-Tänzen nicht zu finden sind (Vlaško, Danec, Râka, Svištovsko, Kamenopolsko, Dunavsko Horo u.a.) (6). Dies hat sicher zur Entstehung der uneinheitlichen Notationsweisen beigetragen.
Rhythmusbeispiel für Pravo horo mit gerader Begleitung:
Zwei Beispiele für frühe Pravo-horo-Aufnahmen mit gerade gespielter Begleitung (aus der wunderbaren Sammlung alter bulgarischer Schallplatten von Larry Weiner):
- Radioprom #1072 – Zapravil Si Dyulger Todor – Yordanka Dimitrova (Vocals) & Radi Angelov Orch.:
2. Orfey #1031 II – Horo – Gosho Lolov (clarinet) & Orch.:
In den letzten Jahren ist jedoch diese einstmals eherne Regel der geraden Pravo-horo-Begleitung in der Praxis nach und nach aufgeweicht. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hielt auch die triolische Begleitung zunehmend Einzug in das Folklorerepertoire, möglicherweise beeinflußt durch irische und schottische Folkmusik, westlichen Pop oder die jazzorientierte moderne bulgarische Hochzeitsmusik (z.B. Ivo Papazov) (7), und wird inzwischen im Pravo horo häufig verwendet, immer wieder auch in Kombination mit geraden Passagen. Angesichts der üblichen Verschiebung des Tanzschrittes zu den Taktblöcken der Melodie (6) entstehen hier durch die komplexere und variierte Begleitstruktur noch mehr dynamische Spannungsfelder als bei ausschließlich gerader Begleitung.
Zur Illustration ein Pravo horo in einem modernen Arrangement – immer noch mit akustischen Instrumenten, aber über weite Strecken mit deutlich hörbarem Lang-kurz-lang-kurz-Rhythmus, also gruppierten Triolen, in der Begleitung:
https://www.youtube.com/watch?v=Wpncg8mHNCU
Rhythmusbeispiel für einen Pravo horo mit moderner triolischer Begleitung:
Rhythmusbeispiel für irischen Jig oder italienische Tarantella:
Die rhythmischen Ähnlichkeiten zwischen der Begleitung eines modernen Pravo horo und der eines irischen Jigs sind nicht zu übersehen. Beide sind deutlich geprägt von dreizähligen rhythmischen Strukturen. Sollte man aber deswegen die Rhythmusnotation des Pravo horo an die neuen Gegebenheiten anpassen und ihn in 6/8 notieren? Nein, denn der „gerade Reigen“ ist ungeachtet der Triolen in der Begleitung immer noch derselbe. Bei westeuropäischen Tänzen wie Jig und Tarantella werden die 6/8 nicht nur in Melodie und Begleitung gespielt, sondern auch von den Tanzschritten übernommen. Im Pravo horo hingegen überspannen die 4 Schritte des Grundmusters 3 Takte der Musik (kurz-kurz-lang-lang) und decken sich mit Viertel- und halben Noten; schnellere Schrittvarianten erfolgen auf (binäre) Achtel, nicht auf Triolen. Diesem wird der 2/4-Takt nach wie vor völlig gerecht.
(1) Kaufman, Nikolaj: Bulgarische Volksmusik. Sofija: Sofija-Press 1971. S. 18
(3) Džudžev, Stojan: Bălgarska narodna muzika. 2. Aufl. Bd. 1. Sofija: Izdatelstvo „Muzika“ 1980.
(4) Todorov, Manol: Bălgarska narodna muzika. Sofija: Izdatelstvo „Muzika“ 1976. S. 27;
Văglarov, Stefan: Narodni hora i tanci. Sofija: Izdatelstvo „Medicina i fizkultura“ 1976. S. 127
(5) Kremenliev, Boris: Bulgarian-Macedonian Folk Music. Berkeley and Los Angeles: University of California Press. 1952. S. 16
(6) http://www.herwigmilde.de/Folk_Pub_BulFT_Pravo_Horo.pdf
(7) Besonders gut kann man den Wandel im Repertoire des Orchesters HORO aus Ruse nachvollziehen. Diese Band besteht seit 1962, und während sie bereits in den ausgehenden 1980er Jahren im Vergleich zu anderen Folkloreorchestern auffällig druckvoll spielte, hört man bei den während des kommunistischen Regimes produzierten Aufnahmen noch keine triolische Begleitung des Pravo horo, sehr wohl aber auf den Platten der frühen 1990er Jahre – bis heute.