eine rätselhafte Kombination
Begräbnistanz – also Tanz anläßlich eines Todesfalls, sei es am Totenbett oder beim Begräbnis oder auch aus dem Anlaß des Totengedenkens – ist das überhaupt denkbar? Die Frage drängt sich auf, in Anbetracht unserer Gepflogenheiten bei diesen Anlässen, vor allem der ernsten, ja strengen Stimmung, die bei uns über der Gemeinde der Trauernden liegt.
Hier haben wir ein terminologisches Problem: Deckt der Begriff „Begräbnistanz” auch die Totenwache und das spätere Totengedenken ab? Das Wort „Totentanz” ist leider schon für etwas völlig anderes vergeben (s.u.). Vielleicht eignet sich – in Anlehnung an Wortkombinationen wie „Funeralbrauch” – die Bezeichnung „Funeraltanz” besser, da dieses Wort alle genannten Situationen umfaßt.
Funeraltänze: schon immer
Wir sind der Frage nachgegangen, ob überhaupt und wenn ja, wo und wie bei Todesfällen getanzt wird. Die Antwort lautet so schlicht wie unbefriedigend: Ja. Und es wurde bereits in vorgeschichtlicher Zeit getanzt, wenn jemand gestorben war. So schreibt z.B. Curt Sachs (1) 1933 ganz allgemein bezüglich der „Naturvölker”:
„Keine Gelegenheit im Leben der naturnahen Völker könnte ihn [den Tanz] entbehren. Geburt, Beschneidung und Mädchenweihe, Hochzeit und Tod, Saat und Ernte, Häuptlingsfeier, Jagd, Krieg und Schweinemahl, Mondwechsel und Krankheit – sie alle bedürfen seiner.”
Curt Sachs schreibt dies zwar über die zeitgenössischen Naturvölker, er nimmt sie aber als Zeugen der europäischen Vorzeit in Anspruch (2). Und daß die Menschheit spätestens seit der Steinzeit tanzt, ist inzwischen belegt (3); es wäre ein Wunder, wenn unter all den herausgehobenen Anlässen zum Tanzen ausgerechnet der Tod ausgenommen wäre. Keine Gelegenheit kommt, wie gesagt, ohne Tanz aus.
Bei Gregor Rohmann (4) lesen wir auf Seite 203:
„Schon seit der Spätantike sind Tänze bei christlichen Bestattungen und Totenfeiern überliefert. Diese Form lässt sich auch in Mittelalter und Frühneuzeit immer wieder beobachten. Erst sehr spät wurden diese Reigen durch das reine Totenmahl, den ’Leichenschmaus’ verdrängt.” (Hierzu Fußnote mit zwölf (!) Literaturfundstellen.)
Walter Puchner erwähnt im Zusammenhang mit dem Rosalienfest ebenfalls Funeraltänze (5).
Drei Phasen
Es gibt also eine Kontinuität der reinen Tatsache des Funeraltanzes von der Vorgeschichte bis in die Neuzeit. Nur – wie genau dürfen wir uns das vorstellen? Daß es sich bei der Totenwache, dem Begräbnis und dem Totengedenken um völlig unterschiedliche Situationen handelt, leuchtet unmittelbar ein und bedarf keiner besonderen Erläuterung. Dementsprechend ist auch die Ausgestaltung des Brauchs in diesen Fällen verschieden.
Ohne in Details zu gehen, schreibt Anca Giurchescu über drei Phasen des Tänze einschließenden rumänischen Brauchs rund um einen Todesfall: Das „Abschiednehmen” (parting) findet statt vom Eintritt des Todes bis zum Abtransport der Leiche aus dem Haus. Während dieser drei Nächte werden nicht näher beschriebene Totenwache-Tänze getanzt. Darauf folgt die Trauerzeit, eine etwa einjährige Übergangsphase, die man sich als lange Reise ins Jenseits vorstellt und die wiederum von Tänzen gekennzeichnet ist. Sie beginnt mit einem Reigen der Männer um das Grab unmittelbar nach der Beerdigung. Das Ende der Trauerzeit markiert ein ritueller Tanz der Lösung (releasing: Freigabe, Loslösung, Entlastung), der gleichzeitig für das Ende der Reise des Verstorbenen und seine Ankunft im Jenseits und für die Rückkehr der Trauernden in das normale Leben der Dorfgemeinschaft steht. (6)
Kesse Totenwache
Silviu Ciuciumiș berichtet Überraschendes darüber, wie es bei der Totenwache zugeht:
„Die Totenwache dauerte zwei Nächte [Giurchescu: drei Nächte]. Dabei wurde geredet, gesungen, Geschichten erzählt, Spiele zur Unterhaltung gespielt und Maskenspiele aufgeführt und in manchen Regionen wurde dabei auch getanzt. All dies diente dazu, den Abschied des Verstorbenen deutlich zu markieren.” (7)
Bermerkenswert ist bei G. Rohmann die Beschreibung eines ebenso unfrommen Verhaltens der Gemeindemitglieder während der „Vigil”, d.h. der Nachtwache vor einem Heiligenfest, aus dem 11. Jahrhundert; die Kleriker murrten über die „Albernheiten” der Laien, gaben aber nach, als die Heilige ihr Einverständnis mittels eines „Wunders” kundgab. (8)
Tanzen, um eines Toten zu gedenken
Schließlich sind ganz zeitgenössisch die Berichte über Tänze zum Totengedenken. Wir haben an anderer Stelle bereits darüber geschrieben (9). Hier sei noch ergänzt, was die Ethnochoreologin Liz Mellish von einer Exkursion 2013 nach Svinița im Süd-Banat berichtet (n.b. – eine der Teilnehmerinnen war die Nestorin der rumänischen Ethnochoreologie, Anca Giurchescu, die wir hier schon mehrfach zitiert haben):
„Der Brauch, einem Verstorbenen einen Tanz zu widmen, geschieht meist während oder zu Beginn eines bestehenden gesellschaftlichen Anlasses, zum dem auch Musik, Lieder und Tänze der lokalen Tradition gehören. Er findet sich im Bergland des südlichen Banats, jenseits der Donau in Nordostserbien, im Gebiet von Mehedinți und den Donauebenen von Timoc, in Südoltenien und Nordbulgarien. Diese Gebiete werden meist als ethnographisch eigenständig betrachtet und als „Banat”, „Oltenien” und „wlachisch” bezeichnet.” (10)
Offensichtlich sind die Totengedenktänze besonders bei den Wlachen noch lebendig. Über die hier genannten Belege hinaus finden sich in der Mailkorrespondenz des East European Folklife Center (EEFC) in mehreren Beiträgen vom 01. bis 26.01.2020 noch zahlreiche weitere Hinweise auf Funeraltänze, sowohl zur Totenwache als auch zur Trauer und zum Gedenken, und zwar aus Armenien, Serbien und Rumänien. Die Zweifel an der Existenz oder gar Legitimität von Funeraltänzen dürften unseres Erachtens damit als ausgeräumt gelten.
Was aber ist ein „Totentanz”?
Mit diesem Begriff werden bildliche Darstellungen bezeichnet, die die Unausweichlichkeit des Schicksals, insbesondere des Todes thematisieren. Meist tanzt da der Tod, als Gerippe dargestellt, mit jeweils einem Vertreter aller Stände. Jeder ist einmal dran – und vor dem Tode sind alle gleich: Bauer, Bischof, Krämer, Fürst. Es geht hier also ums Sterbenmüssen, nicht ums Tanzen.
(1) Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes (1933), S. 2
(2) „Wir würden uns mit einem allzu verschwommenen Bilde des Frühtanzes begnügen müssen, hätten wir nicht die reiche, fast überreiche Ergänzung durch den Tanz der heutigen Naturvölker. Denn die einzelnen Kulturen der europäischen Vorzeit haben unter den heutigen Naturvölkern ihre genauen Entsprechungen.” a.a.O. S. 141.
(3) z.B. Hepp, M.: Genese und Genealogie westeurasischer Kettentänze (2015), auch C. Sachs S. 141-148
(4) Rohmann, Gregor: Tanzwut. Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts. Göttingen 2013. ISBN: 9783525367216.
(5) Puchner, Walter: Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums (2009), S. 74 und 98.
(6) „The parting is the period between the moment of death and the removal of the body from the house. In Transylvania, Moldavia, and Banat, wake dances take place during the three nights that the corpse is in the house.
The mourning period that follows coincides with the notion that the soul of the deceased takes a long journey before reaching his ancestral family in the world beyond. Dance is very important during this long transition period – the interval between the burial and the moment when mourning is allowed to cease, usually one year later. It used to begin with a men’s circle dance which was performed around the grave immediately after the body was interred.
The ritual dance slobozirea jocului (releasing dance) or desjelit (cease to mourn), also performed in Banat and Oltenia, mark both the end of the soul’s journey and its integration into the great family of ancestors in the world beyond. This in turn signals the cessation of mourning and the reintegration of mourners into the normal social life of the community.” Giurchescu, A., Bloland, S. – Romanian Traditional Dance (1992) ch. I-2: Dance in Its Social Context, p. 22-23.
(7) „Jocurile de priveghi (plays at the death watch (wake)): The death watch lasted two nights. At the wake there was talking, singing and stories were told, diverting games were played and masked plays were performed, and in some regions there was dancing as well. The purpose of all this was to clearly mark the moment of parting of the deceased.” Silviu Ciuciumiş: Romanian popular customs, Chapter: Customs related to death. Translation Radboud Koop, Mailkorrespondenz des EEFC 24.01.2020.
(8) Rohmann 2013, S. 192-196
(9) Artikel Lume lume – ein Begräbnistanz? in diesem Webmagazin.
(10) „The custom of dedicating a dance for a person who has passed away usually takes place within, or at the start of, an existing social occasion that includes local music, song and dance. … the custom appears to be both in the mountain areas of southern Banat, across the Danube in north east Serbia, and Mehedinti county, plus the Danubian plains in Timoc, southern Oltenia and northern Bulgaria. Regions that are most often considered as ethnographical separated as “Banat” “Oltenia” and “Vlach”.” Mellish, Liz: Dancing for the dead – Joc/Hora de pomană, dort auch eine Verbreitungskarte.