Unter dem Namen „Alunelul” existieren in unseren Folkloretanzkreisen eine Reihe von Tänzen, die entweder einfach „Alunelul” heißen oder „Alunelul bătut” oder „Alunelul sucit” oder „Alunelul ca la Cîrna” usw. (1) Dazu heißt es oft, der Name „Alunelul” bedeute „Haselnuß” oder „Haselnußstrauch”.
Allerdings heißt die Haselnuß „alună” und nicht „alunelul”; der dazugehörige Strauch ist rumänisch „alun”. Zum „alunel” wird er durch die Verkleinerungsnachsilbe „-el”; und weiter entsteht „alunelul” durch eine zweite Anhängung: die des Artikels „-ul”. (Dies ist eine Besonderheit der rumänischen Sprache, die – wie es übrigens auch im Bulgarischen und im Makedonischen der Fall ist – den bestimmten Artikel (dt. „der/die/das”) an das Ende des Wortes anfügt). Genau übersetzt bedeutet demnach „alunelul” „das Haselsträuchlein”.
Nun treten allerdings Gewährsleute aus Rumänien auf, die den Namen anders deuten: Er sei eine Zusammenziehung von „a lu Nelu” (2). Nach dieser Lesart wäre Alunelu im Sinne einer Zuordnung zu Nelu (von Ionel, Diminutiv von Ion = Johann) zu verstehen. Sie wird durch die Präposition „a” ausgedrückt, entsprechend dem deutschen Dialekt-Ausdruck „dem Nelu seiner”; dem entspricht hochdeutsch der Genitiv „Nelus”. So alleinstehend ergibt „Nelus” noch keinen Sinn; hier fehlt noch eine Ergänzung, die sich aus dem Kontext ergibt: Tanz. „A lu Nelu” wäre demnach wiederzugeben mit „Nelus Tanz”. Der Gleichklang mit dem rum. Haselsträuchlein alunel wäre dann eher zufällig. Freilich ist damit noch nichts bewiesen.
Vielleicht hilft hier der Liedtext weiter (3):
Alunelu, alunelu, hai la joc! Să ne fie, să ne fie cu noroc!
Daß ein Lied mit den Worten „Haselsträuchlein, Haselsträuchlein, auf zum Tanz” beginnt, wäre nicht ungewöhnlich; zahlreiche rumänische Lieder beginnen mit Formeln wie „foaie verde busuioc”, „grünes Basilikumblatt”, ohne jeden Sinnbezug zum folgenden Text. Aber es gibt hier ein kleines Detail, das kaum auffällt und der Schlüssel zum Verständnis sein könnte: Der Text beginnt mit den Worten „Alunelu, alunelu, …” und nicht „Alunelul”. (Wir bleiben zunächst noch beim Liedtext; zum Tanznamen kommen wir später.) Wenn das Haselsträuchlein gemeint wäre, müßte der Text „Alunelul, alunelul, …” lauten. Es gibt tatsächlich eine Quelle, die den Text in dieser Form (mit „-ul”) wiedergibt – es ist eine US-amerikanische (4). Sucht man aber im Internet, egal über welche Suchmaschine, nach „alunelu”, werden auf den ersten zwei Seiten zehn und mehr rumänische Quellen angezeigt, die sich auf das Lied beziehen (oder auf den Tanz zum Lied), bei „alunelul” erscheinen auf den ersten zwei Seiten nur nicht-rumänische Quellen (englische, italienische, deutsche).
Was sagt uns das? Wir meinen, die richtige, weil in rumänischen Quellen ausschließlich genannte Form ist „Alunelu” – „Nelus Tanz”, also ein Tanzname, den wir sinnvollerweise im Liedtext nicht übersetzen: „Alunelu, Alunelu, auf zum Tanz!” (5). So abwegig ist dies nicht, denn Alunelul (mit -ul) ist die Bezeichnung für einen Tanztyp, d.h. für eine Vielzahl an Tänzen aus Oltenien und Muntenien. Entsprechend könnten wir sagen: „Polka! Polka! Auf zum Tanz!” Und die auf der Basis von „alunel” grammatisch unmögliche Form „alunelu” ist nur als „a lu Nelu” sprachlich regelkonform (6).
Wie kommt nun aber der Tanz (oder Tanztyp) zu seinem Namen Alunelul, wenn die namengebende Liedzeile „Alunelu, alunelu, hai la joc!” lautet? Tanznamen männlichen Geschlechts enden generell auf den bestimmten Artikel „-ul”: Rustemul, Brâul, Galaonul, Polobocul, Trandafirul usw. So wurde in Analogie aus dem Alunelu beinahe zwangsläufig ein Alunelul. Der sah nun dem Haselsträuchlein zum Verwechseln ähnlich. Sodann liegt die Vermutung nahe, daß der Tanz auf dieses Lied die ursprüngliche Form war, aus der sich dann viele weitere Varianten differenziert und den Namen mitgenommen haben, dann aber immer mit Zusatz (s.o.). Genauer unterschieden und identifiziert wird lt. Ron Houston (7) der – vermutlich – ursprüngliche Alunelul durch den Namen „Alunelul comun“, „der gewöhnliche A.“.
Wir fassen zusammen: 1. Der Liedtext beginnt mit „alunelu” (nicht „alunelul”). 2. Dieses Wort leitet sich von dem männlichen Vornamen Nelu ab (und nicht von alunel) und ist als Kontraktion von „a lu Nelu” zu verstehen, deutsch: „Nelus [Tanz]”. 3. Der Tanzname „Alunelul“ mit „-ul“ basiert auf dem Liedanfang „Alunelu, alunelu, hai la joc“ und hat durch Analogiebildung zu anderen Tanznamen ein End-„ul“ erhalten. Mit der Haselnuß und anderen wortverwandten Dingen hat der Name nichts zu tun.
Unter dem Namen Alunelul ohne Zusatz trifft man meist auf den Tanz, der unter hiesigen Folkloretänzern weithin bekannt ist (4 und 7). Manchmal hört man unter diesem Namen nur seine Melodie, auf die dann mehr oder weniger phantasievolle neue, bühnentaugliche Choreographien ausgeführt werden. Häufig sind auf Youtube Kindergruppen im Vorschulalter mit Alunelul zu sehen. Das rumänische Onlinewörterbuch Dexonline schreibt, eine Form des Tanzes sei ein Brâu, der in allen rumänischen Regionen in den Schulen verbreitet ist (siehe Fußnote 1). Auch Ron Houston, ein US-amerikanischer Folkloretanzhistoriker, stellt fest, daß Alunelul im frühen 20. Jahrhundert in das rumänische Schulsystem Eingang und landesweite Verbreitung fand. Ist unser Alunelul also ein Kindertanz? Der Liedtext, der pädagogisch ziemlich bemüht für das Tanzen wirbt, indem er den Kindern verspricht, daß sie dann groß werden (und andernfalls klein bleiben!), scheint das nahezulegen. Ob er aber erst in modernen Zeiten zum Kindertanz geworden ist, dafür fehlen uns vorerst leider die Belege.
Hier folgt nun der vollständige Text:
1. Alunelu, alunelu, hai la joc,
să ne fie, să ne fie cu noroc! 2x
Cine-n horă o să joace
mare, mare se va face.
Cine n-o juca defel
va rămîne mititel.
2. Alunelu, alunelu hai la joc,
să ne fie, să ne fie cu noroc! 2x
Joacă, joacă tot pe loc,
să răsară busuioc.
Joacă, joacă tot aşa,
joacă şi nu te lăsa.
Übers.:
1. Alunelu, Alunelu [= Tanzname], auf zum Tanz, damit er uns Glück bringt!
Wer die Hora tanzt, wird groß. Wer sie nicht tanzt, bleibt klein.
2. Alunelu, Alunelu, auf zum Tanz, damit er uns Glück bringt!
Tanze, tanze auf dem ganzen Platz, damit das Basilikum wächst.
Tanze, tanze genau so, tanze und höre nicht auf.
Zu guter Letzt: Wie kam der Tanz in die Folkloretänzergemeinde außerhalb Rumäniens? Die vorbildliche historische Dokumentation US-amerikanischer Folkloretanzorganisationen verfolgt die Spur zurück bis zu Larisa Lucaci († 2015), einer Tanzlehrerin aus Rumänien, die 1948 in die USA emigrierte und dort 30 Jahre lang rumänische Tänze lehrte. Sie produzierte Musikaufnahmen in Kooperation mit Michael Herman unter dessen Label „Folk Dancer”, darunter auch Alunelul (7 und 8). So fand der Tanz Eingang in das Repertoire des Freizeittanzes in Nordamerika und kam von dort mit vielen anderen meist europäischen Volkstänzen nach Deutschland und zu seinen Nachbarn – ein Prozeß, der genug Stoff für eine eigene Untersuchung bietet.
(1) Eine kleine Auswahl, um die Vielfalt zu verdeutlichen: Alunelul ca la Cârna-Bârca, Alunelul de brâu, Alunelul de la Băilești, Alunelul de la Bîrca, Alunelul de la Daneți, Alunelul de la Godinești, Alunelul de la Horezu, Alunelul de la Orodel, Alunelul de la Urzica, Alunelul de la Vădăstrița, Alunelul de mâna de la Goicea, Alunelul din Corlata, Alunelul înfundat, Alunelul plimbat, Alunelul rudaresc, Alunelul sucit. Die Bezeichnungen beziehen sich entweder auf den Ort oder die Gegend ihrer Herkunft (Băilești, Orodel, Vădăstrița usw.) oder auf die Art und Weise, wie getanzt wird (înfundat: geschlossen, de mâna: in Handhaltung, de brâu: in Gürtelfassung, plimbat: spazierend usw.).
Das rumänische Onlinewörterbuch Dexonline (https://dexonline.ro/definitie/alunel) führt u.a. zwei interessante Einträge zum Tanz an:
alunelul 1. Joc popular românesc cu diferite variante și denumiri (a. de mână, a. îngenuncheat, a. plimbat, a. înfundat, a. bătut, a. ca la Dolj etc.), răspândit în Oltenia. Este un joc de bărbați sau mixt, în linie, cu brațele încrucișate la spate sau în față. A. mai poate fi întâlnit și în formație de cerc, cu brațele îndoite prinse în lanț. Are ritm binar* și o mișcare vioaie, cu pași bătuți și încrucișați. 2. Variantă de brâu (brâu nou), popularizat în toate regiunile prin școală.
„1. rumänischer Volkstanz mit verschiedenen Varianten und Bezeichnungen (A. de mână, A. îngenuncheat, A. plimbat, A. înfundat, A. bătut, A. ca la Dolj usw.), verbreitet in Oltenien. Er ist ein Männer- oder gemischter Tanz in Reihen in Rücken- oder Vorderkreuzfassung. Man sieht in auch in Kreisformation in W-Fassung. Er hat einen binären Rhythmus und lebhafte Bewegungen mit Stampf- und Kreuzschritten. 2. Variante des Brâu (Brâu nou), durch die Schule in allen Regionen populär.“
ALUNELUL s. m. art. Dans popular românesc în ritm binar și mișcare vioaie, răspîndit în special în Oltenia și în Muntenia; melodia corespunzătoare acestui dans.
„Rumänischer Volkstanz in binärem Rhythmus und lebhaften Bewegungen, speziell in Oltenien und Muntenien verbreitet; Melodie zu diesem Tanz.“
(2) Monika und Marius Unterreiner, Mannheim (Mitt. 21.07.2016), Raina Kacarova und Silviu Ciuciumiș (zit. b. Michael Hepp: Genese und Genealogie westeurasischer Kettentänze, Münster 2015, S. 312) sowie Anca Giurchescu und Sunni Bloland in ihrem Buch Romanian Traditional Dance (1992) S. 267: Alunelu is popularly translated as a diminutive of hazel tree. In fact it seems that the name is a contracted form of A lu Nelu (Nelu’s dance, Nelu being a diminutive of the [name] Ion/„John”): Alunelu wird allgemein als Verkleinerungsform des Haselstrauchs übersetzt. Tatsächlich ist der Name anscheinend eine zusammengezogene Form von „a lu Nelu“ (Nelus Tanz; Nelu ist die Verkleinerungsform des Namens Ion/Johann).
(3) laut http://www.cantecedecopii.com/cantec-alunelu/
(4) Die Folk Dance Federation of California (http://www.folkdance.com/federation/dances/alunelul.pdf) schreibt: Alunelul, alunelul, hai la joc …
(5) Allerdings wird Alunelul außerhalb Rumäniens sehr häufig mit „die Haselnuß” oder auch „der Haselstrauch” (Mihai David: „the hazelnut”) übersetzt. Eine Aufnahme der Essential Media Group (USA) von 2011 trägt dem Titel „Alunelul Dance (Hazelnut Tree Dance)”. Womit die Deutung „Haselnuß” weiter zementiert wird.
(6) Die Endung „-u” gibt es im Rumänischen nicht bei Substantiven, sondern nur bei Eigennamen (Eminescu, Popescu usw.). Männliche Substantive enden entweder auf Konsonant oder auf den enklitischen Artikel „-ul”, es sei denn, das End-u ist Teil des Wortstamms (z.B: leu).
(7) beschrieben u.a. auf www.herwigmilde.de und bei Ron Houston: Folk Dance Problem Solver (1987). Austin, Texas: Society of Folk Dance Historians, 1987 (http://www.sfdh.org/encyclopedia/alunelulcomun.php):
Alunelu(l) (a-loo-NEH-loo) = (the) little hazelnut
Other names: Alunelul Comun. Alunelul Cunoscut. The 5-3-1 Dance.
Background: Originally from Oltenia, a region in southwest Romania, Alunelul entered the Romanian school system curriculum in the early 20th century and spread country-wide. Larisa Lucaci taught it to the US in 1955; thence it spread worldwide. Being the generic name of a huge and disconnected family of dances, „alunelu“ probably has nothing to do with the subfamily of birches, Betulaceae, commonly called hazelnuts, cobnuts, filberts […]
„Alunelu(l) = (das) Haselnüßchen
Andere Namen: Alunelul Comun. Alunelul Cunoscut. Der 5-3-1-Tanz.
Hintergrund: Ursprünglich aus Oltenien, eine Region in SW-Rumänien. A. wurde im frühen 20. Jh. in das rumänische Schulsystem eingeführt und verbreitete sich landesweit. Larisa Lucaci lehrte ihn 1955 in den USA; von da aus verbreitete er sich weltweit. A. ist der Gattungsname einer riesigen und unzusammenhängenden Familie von Tänzen und hat wahrscheinlich nichts zu tun mit der Unterfamilie von Birken, Betulaceae, allgemein Haselnuß genannt.“
Siehe auch https://sfdh.us/encyclopedia/alunelu.html
(8) Larisa Lucaci auf SFDH.us: https://www.sfdh.us/encyclopedia/lucaci_l.html
Nachtrag:
Haselstrauch (alunelul) oder Tanzname (a lu Nelu)?
Ganz so eindeutig wie im Artikel dargelegt, sind die Verhältnisse bezüglich der Endung „-ul” bzw. „-u” nicht. Wir verdanken Marius Unterreiner den Hinweis auf abweichenden Gebrauch des Artikels in Dialekt und Volksdichtung, wo die Endung „-l” nach dem u auch entfallen kann, ja sogar nach einem regulären „-u” ein „-l” hinzugefügt wird, um „den Reim zu retten”. Dies widerlegt allerdings unsere Argumentation nicht, da 1. bei einem landesweit verbreiteten Tanzlied nicht von einer regionalen Dialektform auszugehen ist und 2. „Alunelu” hier (am Zeilenanfang) nicht an einen Reim angepaßt werden muß. Im übrigen fügt sich die Deutung von „Alunelu” im Liedtext als Tanzname bruchlos in den Sinn des gesamten Textes, der die Kinder zum Tanzen auffordern will. (Auch hier wird wieder deutlich, daß die Sprache grundsätzlich nicht zweifelsfrei auf eine Deutung festgelegt werden kann und Interpretationen Hypothesen bleiben, es sei denn, ein eindeutiger Beweis wird erbracht.)
Kindertanz?
Damit sind wir wieder bei der Frage, ob Alunelul a priori ein Kindertanz ist. Heute ist er es in Rumänien gewiß; Zweifel daran, daß er es ursprünglich war, legt A. L. Dobrescus Darstellung des Alunelul in seinem Manual de dansuri nationale (1940) nahe. In seiner Beschreibung der Tanzform des Alunelul steht nichts von Kindern. Einen Liedtext gibt es bei seinen Noten nicht. Wir nehmen daher an, daß der Alunelul erst durch die Einführung in den schulischen Lehrplan und durch die Hinzufügung eines auf Kinder zielenden Textes zu einem Kindertanz gemacht wurde.
Nachtrag 2:
Ein Volkstanz ad usum delphini
So bezeichnet(e) man in der vormodernen Pädagogik kastrierte Texte für den Unterricht („zum Gebrauch des Kronprinzen”); man wollte die „zarten” Schüler vorgeblich nicht mit der rauhen Wirklichkeit konfrontieren. Dabei wussten doch alle – auch die Lehrer – dass die Schüler selbst schon die „rauhe Wirklichkeit” waren … Uns überrascht selbst, wie aktuell dieses Thema der „bereinigten“ Texte gegenwärtig ist.
Die Hora als moralische Instanz
In unserem Artikel „Alunelul – Haselnuß vs. Nelu” haben wir eine weit verbreitete Version des Liedtextes zitiert, die auf einigermaßen ruppige Weise den Kindern androht, sie würden nicht groß, wenn sie den Tanz nicht tanzten. („Wer die Hora tanzt, wird groß. Wer sie nicht tanzt, bleibt klein.”) Von diesem Text gibt es eine ganze Reihe von Varianten, die sich nur in Details unterscheiden.
Eugenia Popescu-Județ (1) verdanken wir einen anderen, merkwürdigen Text der Zeilen drei und vier, statt „Cine-n horă o să joace, mare, mare se va face.”:
Cine joacă și nu strigă, Face-i s-ar gura pungă. (Übersetzung siehe weiter unten.)
Danach geht es aber auch bei ihr weiter mit der – hoffentlich gut gemeinten – Warnung, wer die Hora nicht tanze, bleibe klein. Popescus vollständiger Text lautet:
Alunelul, alunelul, hai la joc,
să ne fie, să ne fie cu noroc!:
Cine joacă și nu strigă,
Face-i s-ar gura pungă;
Cine n-o juca de fel,
Să ramîie mititel!
Übersetzungsfragen
Popescu-J. liefert dazu die folgende englische Übersetzung:
Little hazel, come and dance, / Bring all of us luck.
Whoever dances without shouting, / May his mouth become dried out!
Whoever won’t dance, / May he never grow up!
Über den Wortlaut der ersten Zeile, ob „Alunelul” oder „Alunelu”, haben wir uns schon in unserem ersten Artikel „Alunelul – Haselnuß vs. Nelu” ausführlich geäußert. Der obige Text steht in einer Publikation aus den USA, nicht aus Rumänien; von daher erklärt sich die Hyperkorrektur „Alunelul” mit End-„l”. (In den englisch-phonetischen Aussprachehinweisen „ah-loo-NEH-loo“ fehlt das End-„l” – was unseren Verdacht zu bestätigen scheint.) Auch die Bedeutung von Alunelu (eben nicht „little hazel”) haben wir dort erörtert.
„Bring all of us luck” unterstellt, dass das Haselsträuchlein (das es freilich im Original nicht gibt) den Tänzern Glück bringe. Das rumänische Original „hai la joc, să ne fie cu noroc” meint dagegen, dass das Tanzen Glück bringen solle („auf zum Tanz, damit er uns Glück bringe”).
Der Satz „Face-i s-ar gura pungă” bereitet größere Probleme. Die englische Übersetzung „May his mouth become dried out” versucht offensichtlich, irgendwie zu einem Sinn zu kommen. Das Original enthält jedoch weder uscat noch sec o.ä. (beide = trocken) und die gura pungăerschließt sich nicht auf Anhieb: gura ist der Mund und pungă eine Tasche oder ein Beutel. (Wir wollen jetzt nicht an schwäbische Maultaschen denken!) Vielfache Recherchen führen uns zu dem Ergebnis, dass wir uns bei der pungă einen Beutel vorstellen müssen, der oben mit Schnüren zusammengezogen wird. Wir übersetzen also: Dem soll sich der Mund zusammenziehen. Auch an dieser Stelle offenbart die Hora sich als moralische Institution. Sie transportiert die im rumänischen Dorf geltenden Normen: Beim Tanzen muss man Verse rufen.
Möglicherweise ist das rumänische „de fel” (dt.: so, auf diese Weise) nur ein Schreibfehler. Es müsste nach unserer Überzeugung aber „defel” heißen: gar nicht. So fügt die Zeile sich in die grobgeschnitzte Logik des Kinderliedes ein: Tanzen – groß werden, nicht tanzen – klein bleiben. (Die Verse „Wer die Hora tanzt, wird groß” fehlen bei Popescus Text – möglicherweise liegt auch hier wieder eine Kürzung vor.)
Ob das einfache „Să ramîie mititel” in der Übersetzung ein „niemals” (engl. never) rechtfertigt, sei dahingestellt. Jedenfalls kommen wir zu der Einschätzung, dass die folgende Übersetzung das Original optimal wiedergibt:
Alunelu, Alunelu, auf zum Tanz, damit er uns Glück bringt!
Wer tanzt und nicht ruft, dem soll sich der Mund zusammenziehen.
Wer ihn [den Alunelul] nicht tanzt, bleibt klein.
Die letzte Zeile richtet sich ganz offensichtlich an kleine Leute, an die Kinder. Der Hinweis, dass beim Tanzen auch „gerufen” wird, führt uns nun zu einem neuen Aspekt dieses merkwürdigen „Kinder”-Liedes: zu den Strigături.
Das „Rufen” – eine rumänische Spezialität
Wir haben in unserer Sammlung neben einigen instrumentalen Einspielungen auch eine mit Gesang. (2) Deren Text haben wir in unserem bereits erwähnten ersten Alunelul-Artikel (s.o.) zitiert. Bei genauerem Hinhören sind ab 0:50 im Hintergrund Strigături wahrzunehmen, die wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. Die haben es nämlich (Strigături-typisch) in sich und wollen so gar nicht zu einem Kinderlied passen. Die Männer skandieren:
Uite colea mîndra mea, săruta-i-aş guriţa!
Trece dracu‘ peste munte, cum te prinde cum te ţucă!
Schau da: mein Mädchen, ich mag ihren Mund küssen!
Der Teufel kommt über den Berg, wie er Dich fängt, küsst er Dich!
Strigături sind meist extemporierte, paarweise gereimte Verse mit sentimentalem, moralischem oder wie hier satirischem Inhalt, die während eines Tanzes in dessen Rhythmus gerufen werden. (3) Bei unserem zweiten Verspaar („Trece dracu‘ …”) reimen munte und ţucăsich jedoch nicht, nicht einmal annähernd, und das fällt auf.
„Das bedeutet, da müsste eigentlich ein anderes Wort stehen (statt ţucă). Das Wort ţucă deutet die ungefähre Richtung an, aber das eigentliche Wort bleibt verborgen, weil es unanständig wäre, es auszusprechen. Die rumänischen Zuhörer setzen aber das „richtige“ Wort [das sich auf munte reimt] in Gedanken ein – oder denken zumindest daran.” (Laura Brinzan, E-Mail am 17.04.2023)
Ein Kindertanz?
Damit kann der Alunelul schwerlich ein Kindertanz sein. „Ob er aber erst in modernen Zeiten zum Kindertanz geworden ist, dafür fehlen uns vorerst leider die Belege” – so haben wir seinerzeit geschrieben. Inzwischen besitzen wir aber einige konkrete Hinweise.
Zunächst lesen wir in Dobrescus Tanzsammlung von 1931 (4), dass er von „Jungen und Mädchen”, und zwar von heranwachsenden, unverheirateten jungen Leuten („șirul de flăcăi și fete intercalați” – eine Reihe von Burschen und Mädchen abwechselnd) getanzt wurde. Die Bezeichungen für Elementarschulkinder wären copii, băieți und fetițe. Dobrescus Noten enthalten keinen Liedtext.
Eine andere Quelle bezeichnet ihn sogar als Männertanz: Im Wörterbuch der musikalischen Formen und Genres (5) schreibt Dumitru Bughici unter Bezug auf den bekannten Liedtext: „Obwohl der Alunelul ein Tanz speziell für Männer ist, gibt es auch Varianten, bei denen die Mädchen tanzen”. (Deși a. este un joc specific bărbătesc, există și variante în care dansează fetele.)
Auch Gheorghe Popescu-Județ, Ehemann der genannten Eugenia P.-J., (6a) bestätigt dies. Ihm zufolge ist der Alunelu simplu, der einfache A., die bekannteste Variante der Alunel-Tänze, die überall in Rumänien bis hin zur Moldau getanzt wird; indem Gh. P.-J. diesem die Liedverse zuordnet, die wir an anderer Stelle bereits zitiert haben, ist er als derselbe wie „unser” Aluneluldefiniert. Er sei der älteste Alunelul, die Urform, von der alle anderen Varianten abstammen. Seine Ausbreitung erklärt Gh. P.-J. durch oltenische Rekruten, die in anderen Provinzen ihren Dienst ableisteten, sowie durch Grundschul- und Sportlehrer. Damit bezeichnet er zwei wesentliche Elemente in der Historie des Alunelul: Er war ursprünglich ein gewöhnlicher Dorftanz und wurde später in die Schulen eingeführt.
Eugenia Popescu-Judetz schreibt in der US-Folklorezeitschrift VILTIS 1974, dass der Alunelul, von dem hier die Rede ist, und der überall in Rumänien auf die gleiche Art getanzt wird, nach USA und Europa exportiert und in das rumänische Elementarschulsystem eingeführt worden sei. Danach, so die Autorin, breitete er sich im ganzen Land aus und wurde in die Repertoires der Dörfer aufgenommen. (6b) In diesem Detail dreht sie die Abfolge gegenüber Gheorghe P.-J. um.
Wie dem auch sei – interessant ist hier für uns die Historie in groben Zügen. Wir sehen demzufolge eine Entwicklung des Tanzes in drei Phasen:
1. Tanz im Dorf (Heranwachsende (Dobrescu) bzw. Männer (Bughici), „früher”, ursprünglich, Oltenien)
2. Tanz in der Schule (Schüler, Zeitpunkt von Dobrescus Buch, nach 1931, ganz Rumänien)
3. Tanz im Kindergarten (Kinder, nach 1945)
Nach 1945 wurde unter der stalinistisch-kommunistischen Führung die rumänische Folklore für die Indoktrination in der Volkserziehung und Schulpädagogik instrumentalisiert. Aluneluleignete sich sehr gut, die Kinder in den Erziehungseinrichtungen unter staatlicher Aufsicht nationalistisch auszurichten. Man kann heute Erwachsene aus Rumänien ansprechen und fragen, wen man will, alle haben in ihrer Kindheit den Alunelul gesungen und getanzt. Zu den oben angeführten drei Phasen könnte man noch eine vierte hinzufügen: Durch Larisa Lucacikam der Tanz in den 1950er Jahren in die USA und nahm von da seinen Weg in den internationalen Freizeittanz inner- und außerhalb der USA – wiederum getanzt von Erwachsenen.
Wenn unsere (einzige) Aufnahme mit Gesang – die o.g. Elektra-Platte – auch keine rumänische Produktion ist, macht sie doch mit ihrem Kindergarten-Text und den Erwachsenen-Strigaturiden Weg deutlich, den der Tanz im Laufe der Jahrzehnte bis in unseren Folkloretanz genommen hat.
Anmerkung
Wir verfügen inzwischen über einen weiteren und sehr interessanten Beleg für unsere Darstellung der Historie des „Kindertanzes“ Alunelul, genauer: für seine Ursprünge als gewöhnlicher (Erwachsenen-)Dorftanz.
In seiner Lieder- und Tänzesammlung von 1916 präsentiert Gheorghe Fira einen Alunelul (7), zwar mit einer gänzlich anderen Melodie, aber mit einem mehrere Strophen umfassenden Liedtext, der u.a. auch den bekannten Vers „Cine joacă și nu strigă …“ (wer tanzt und dabei nicht ruft) und die dazugehörigen Drohungen enthält. Damit dürfen wir dieses Dokument aus dem frühen 20. Jahrhundert unserem Alunelul und seiner Geschichte zurechnen.
Der Text lautet:
Alunel dărăpănat, Drag mi-e neica sprăncenat Și revărsat de bubat Și cu părul inelat. | Verwildertes Haselsträuchlein, Meinen Liebsten mit [dichten] Augenbrauen (8)habe ich gern, Mit Pickelnarben übersät Und mit geringeltem Haar. |
Refrain: Alunel, alunel, of, of, of. Hi! | |
Cine joacă și nu strigă, Face-i s’ar gura strâmbă, C’așa-i jocul românesc, Când l-aud mă’nveselesc. | Wer tanzt und nicht ruft, Möge einen schiefen Mund bekommen, Denn so ist der rumänische Tanz, Wenn ich ihn höre, werde ich froh. |
Indeamnă, ’ndeamnă murguleț Colea’n vale la Cerneț, Că se face-un târguleț De fete și de băieți. | Vorwärts, vorwärts, Pferdchen, Denn dort im Tal von Cerneț ist Markt für Mädchen und Buben. |
M’a făcut maica pe lună, Să fiu tot cu voie bună, M’a făcut maica’n coșari, Să fiu puiu de călușari. | Meine Mutter zeugte mich bei Mondschein Damit ich immer gute Laune habe. Meine Mutter zeugte mich in einem Pferch, damit ich ein kleiner Călușar (9) werde. |
Toate plugurile umblă, Numai plugulețul mieu L-a’nțelenit Dumnezeu. (bis) | Alle Pflüge gehen um, Nur mein Pflüglein Hat Gott angehalten. |
Dar ’ar bunul Dumnezeu Să fie pe gândul meu, Să trag brazdă dracului La ușa bogatului. | Der liebe Gott gebe, Dass meine Gedanken geschehen, Dass es die Teufelsfurche zieht vor des Reichen Tür. |
Laut Vorwort stammen die Lieder meist aus der Gemeinde Ștefanești in Oltenien; den Alunelulhat Gheorghe Fira als Student am Lehrerseminar in Craiova (Oltenien) aufgeschrieben, wie er in einer Fußnote anmerkt.
Bereits die zweite Zeile mit der Erwähnung des Liebsten (neica) lässt aufhorchen; seine Beschreibung mit Augenbrauen, Pickelnarben und Locken verrät eine verliebte junge Frau als Sprecherin. In der zweiten Strophe folgen die bekannten Aussagen über das richtige Tanzen und die Konsequenzen für den, der die Regeln nicht befolgt: Ein Schiefmaul wird ihm angedroht. In diesem durchaus nicht kindgerechten Stil geht es in den folgenden vier Strophen weiter: ein Markt für Mädchen und Buben, die Umstände, unter denen die Sprecherin gezeugt wurde, sowie deren Folgen, und zum Schluss noch eine sozial motivierte Verwünschung. Damit ist die Verortung des Alunelul in der erwachsenen Dorfgemeinschaft, so meinen wir, zweifelsfrei belegt.
(1) Eugenia Popescu-Judetz: Sixty folk dances of Romania. Pittsburgh, Pa. 1979.
(2) Aus der LP „The Whole World Dances” mit Geula Gill und dem Oranim Zabar Folk Dance Orchestra. Elektra EKL-206 (1961) https://www.discogs.com/de/release/10679484-Geula-Gill-Oranim-Zabar-Folk-Dance-Orchestra-The-Whole-World-Dances.
(3) https://ro.wikipedia.org/wiki/Strigătură
(4) Dobrescu, A. L. – Manual de dansuri nationale (1931), S. 45f.
(5) Dumitru Bughici: Dictionar de forme si genuri muzicale, Bucuresti 1978.
(6a) Gheorghe Popescu-Județ: Jocuri Populare Romînești (1959), S. 24; unter dem Titel Alunelul șchiop allgemeine Aussagen über den „Alunelu simplu”.
(6b) „But now what about the old, well-known Alunelul? (As danced in the U.S.A. and introduced by Larisa Lucacci [sic]. See VILTIS, Jan – Feb, 1958, VFB). Its origin, and its traveling, in a closed circle with hands on shoulders, is practiced all over the country [Romania], in all regions in the same way and even has been exported since late last century (maybe?) or this century abroad, to England, U.S.A. and all places where Romanian immigrants settled. In Romania this Alunelul was one of the dances which was introduced by the teachers into the elementary schools and subsequently spread to the country, being incorporated in the villages‘ repertoires. The melody is charming and the text of the song indicates positively that this dance belongs to the children’s dances.”
(7) Gheorghe Fira: Cântece și hore, București 1916. Alunelul: S. 104
(8) „sprăncenat“: mein *augenbrauiger* Liebster
(9) „puiu de călușari“ wörtlich: „Kleines (Küken) der Călușari“ = Kind, das die C.-Truppe begleitet. Das ist aber unmöglich, da die C. ein Männer-Geheimbund sind. Die Zeile drückt nur einen Wunschtraum der Sprecherin aus.