Ein merkwürdiger Rhythmus (aktualisiert)

Die Hora Libertatea (original „Cîntecul lui Iancu Jianu”) von Theodor Vasilescu ist ein langsamer Tanz, jedenfalls in seinem ersten Teil. Sie hat einen gemäßigten, leicht hinkenden und doch gleichmäßigen Rhythmus, der mich schon sehr lange (Jahrzehnte!) irritiert. Ich nenne ihn „die rumänische Unwucht”. Inzwischen – erst vor kurzem – bin ich ihm auf die Spur gekommen. Es sind weder Triolen noch ein 6/8-Takt; wenn man versucht, zu der Musik strenge gleichmäßige Schläge zu klopfen, wird schnell klar: Man tut dem Rhythmus Gewalt an.

Was ist es dann? Klar zu hören sind jeweils zwei Pulsationen pro Takt, wobei der erste Taktteil immer länger ist als der zweite, also grob ausgedrückt: „lang – kurz – lang – kurz – lang – kurz – lang … usw.” Aber in welchem Verhältnis stehen die beiden Taktteile zueinander? Sind es 3 : 2 (5/8)? Oder gar 4 : 3 (7/8)? Da weder Solostimme noch  Begleitung den Rhythmus in Achtel auflösen, man also nach dem Gehör keine Achtel auszählen kann, bleibt nichts anderes übrig, als die Taktteillängen in einem Musikbearbeitungsprogramm auszumessen. Das Ergebnis hat mich dann doch überrascht: Zwei unserer Referenzaufnahmen (1) liegen ziemlich nahe bei 5/8 im Verhältnis 3 : 2. Eine dritte jedoch (2) liegt exakt in der Mitte zwischen 5/8 und 7/8 (4 : 3). (3)

Daß die Wirklichkeit der Musikaufnahmen sich nicht hundertprozentig deckt mit einer bestimmten Taktvorgabe (5/8 oder 7/8), muß uns nicht beunruhigen – es macht ja gerade den Reiz einer lebendigen, von Musikern gemachten Musik aus, daß sie nicht mechanisch präzise erklingt wie technisch von Maschinen produzierte Klänge. 

Dieses ruhige, unwuchtige Spiel in einem binären, aber dennoch merkwürdig ungeraden Rhythmus habe ich bisher nur in rumänischen Musiken gefunden; es ist wohl eine rumänische Spezialität. Die Hora lui Dobrică des Orchesters „Ciocîrlia” ist dafür ein weiteres, sehr schönes Beispiel (Hörprobe s. unten). Bei ihr finden wir den Rhythmus 3 : 2 in reiner Form, nicht nur annäherungsweise. Generell sind diese „hinkenden” Rhythmen, die in der Ethnomusikologie Südosteuropas mit dem türkischen Wort „aksak” bezeichnet werden, zwar weit verbreitet, auch die 5/8, diese aber meist im Rhythmus 2-3 (bulg. Pajduško). Die rumänische traditionelle Musik dreht das Verhältnis um in „lang-kurz”. 

In seiner Rumänischen Rhapsodie Nr. 1 hat Gheorghe Enescu – neben vielen anderen traditionellen rumänischen Melodien – auch die Hora lui Dobrică verarbeitet. Er wollte beim Rhythmus aber offensichtlich der Tradition nicht mehr folgen und hat sie im Dreivierteltakt gesetzt. Dagegen spielt das Orchester „Ciocîrlia” das Stück ursprünglicher, rumänischer, im 5/8-Takt (3-2).

Wir haben hier wieder einmal ein wunderschönes Beispiel für den Gegensatz zwischen akademischer (3/4) und folkloristischer (7/16) Musik. Die eine brav und „sauber”, die andere kraftvoll und urwüchsig. 

Hörproben:

Hora lui Dobrică – Orchester „Ciocîrlia” (auf „Muzică Populară Românească”, Electrecord – EPD 1033):

Hora lui Dobrică – Orchester der rumänischen Armee:
https://www.youtube.com/watch?v=WJMYD5ysH2k

Hora lui Dobrică – sehr schöne Blasmusik-Aufnahme aus der Moldau:
https://www.youtube.com/watch?v=oXVL3cJkSNM

Lieder mit Gabi Luncă:

Supărat sunt pe lume, CD „Oameni buni și dragă lume“, Electrecord EDC 682 (2005)
https://www.youtube.com/watch?v=oYNCDBQ8Y68

Trenule când oi pleca, CD „Două mame pentru-o fată“, Electrecord EDC 676 (2005)
https://www.youtube.com/watch?v=i1exqLBxcy4

Amar, amar, CD „Oameni buni și dragă lume“, Electrecord EDC 682 (2005)

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Im Kontrast dazu zwei Einspielungen der Hora lui Dobrică in 3/4:

Gheorghe Enescu: Rumänischen Rhapsodie Nr. 1, ab Min. 2:23
https://www.youtube.com/watch?v=1l3uA-lQFS4

Tudor Pană, CD „Tudor Pană – Vioară“, Electrecord EDC 952 (2010):
https://www.youtube.com/watch?v=3dj7SSwBaiE


(1) Cîntecul lui Iancu Jianu von Gheorghe Zamfir, LP „Rencontre avec la Roumanie – Gheorghe Zamfir – Flûte de Pan“, Electrecord ST-EPE 0433 (1970) und Cîntecul lui Iancu Jianu & Brîul oltenesc von Gheorghe Zamfir, LP „Zamfir şi virtuozii săi“, Electrecord ST-EPE 02882 (1986)

(2)  Cîntecul Jianului von Gheorghe Zamfir & Ans. Ciocârlia, LP „Les flûtes roumaines“, Arion 30 T 073 (1970)

(3) Die Meßergebnisse im Detail: s. Jianul_TaktMess_S1.
Die Meßmethode: s. Taktmess_Bsp.