Folkloretänze erfinden

Die Frage, wie authentisch dieser oder jener Folkloretanz denn sei, bewegt die Tänzer nicht nur hierzulande seit langem (1). Meist geht der Streit dabei um „choreographierte” Tänze. Diese sollen uns aber diesmal nicht interessieren. Auch wenn das Arrangement von mehr oder weniger „authentischem” choreographischem Material durch „authentische” Tanzlehrer zu neuen, nicht-traditionellen Tänzen Fragen aufwirft, die im Einzelfall in recht heftigen Auseinandersetzungen münden können („Namen sind der Redaktion bekannt”), wollen wir uns hier auf die Erfindung von Tänzen durch „nicht-authentische”, d.h. hiesige Tanzlehrer oder Tanzlehrerinnen beschränken. Ein singuläres Phänomen ist dies keineswegs, wie jeder weiß, der die Folkloretanzangebote und -Repertoires unserer Szene aufmerksam beobachtet.  

Stefan Kotansky bekannte sich offen dazu, von seinem Auftrag als Tanzlehrer überzeugt, und beendete am 4. April 2010 in Obersteinbach seine Ausführungen über Opa Cupa mit dem Satz: 

„Also, es ist wichtig, daß wir schöne Musik finden und darauf etwas tanzen. Und ab und zu müssen wir etwas erfinden …” (2)

Eine kritische Gegenposition zu derlei Selbst­ge­wißheit lesen wir bei Ron Houston, der als Gründer der SFDH (3) und durch zahlreiche fundierte Beiträge bekannt wurde. Er schreibt unter dem Titel „Was ist Volkstanz?” (4) zum Thema „Erfundene Tänze”: 

„Da die Original-Materialsammlung ihre Schätze freigibt und die Anhänger nach Neuem schreien, machen Horden von Choreographen, die zu kommerziell oder ignorant oder faul oder egoistisch sind, um die Literatur zu studieren, sich ans Werk, einen Haufen neuer Tänze „im traditionellen Stil” zu kreieren. Während ein paar neue Tänze das Repertoire erweitern, werden hunderte andere zu nicht mehr als einer Gedächtnisübung. …

„Also wenn die Volkstänze machen können, warum nicht ich?” Du kannst es! Ignoriere einfach völlig die Zehntausende traditioneller Tänze, die es bereits gibt, ignoriere die Tatsache, daß du niemals die Kultur so kennen wirst wie ein Einheimischer, ignoriere die traurige Wahrheit, daß deine Schüler dein „ich garantiere für nichts” ignorieren werden, und achte darauf, deine Schöpfung als das zu bezeichnen, was sie ist: ein erfundener nicht-Volks-Tanz, der auf deiner Interpretation von Volkstanzmotiven beruht und zu einer Musik gemacht wurde, die du für geeignet hältst. Ach ja, achte darauf, auch dein Gewissen zu ignorieren!” (5)

Müssen wir dem noch etwas hinzufügen? Wir glauben nicht. 


(1) Beispiel https://www.jimgold.com/why-some-of-my-favorite-dances-are-choreographed-by-loui-tucker/

(2) https://tanzrichtung.herwigmilde.de/?p=234

(3) SFDH: die US-amerikanische Society of Folk Dance Historians, eine gemeinnützige Gesellschaft zur Bewahrung von Information über die Geschichte und Praxis des Internationalen Folkloretanzes – http://sfdh.us

(4) engl. folk dance macht keinen Unterschied zwischen „Folkloretanz“ und „Volkstanz” wie im Dt.

(5) „What is Folk Dance? by Ron Houston

Devised Dances:

As the original corpus of material yields its treasures and adherents clamor for novelty, hordes of choreographers, too commercial or ignorant or lazy or egotistical to master the literature, devise swarms of new dances „in the traditional style.“ While some new dances augment the repertoire, hundreds of others turn dance into no more than an exercise in memory. …

„So if they can create folk dances, why can’t I?“ You can! Just ignore completely the tens of thousands of traditional dances already in existence, ignore the fact that you will never know the culture like a native, ignore the sad truth that your students will ignore your disclaimers, and be sure to label your creation for what it is: non-ethnic devised dance based on your interpretation of ethnic motifs and set to music that you feel to be appropriate. Oh yes, be sure to ignore your conscience, too!”

http://sfdh.us/encyclopedia/what_is_folk_dance_houston.html

Ein Gedanke zu „Folkloretänze erfinden

  1. Das Thema wurde schon vor ein paar Jahren in der Mailkorrespondenz des EEFC intensiv diskutiert.
    Unter den vielfältigen Beiträgen mit ihren diversen Aspekten stachen zwei gewichtige Hauptthesen heraus:

    1. Nicht-authentische „Folklore”-Tanzkreationen sind immer unecht und können – je nach Standpunkt – als unethische kulturelle Aneignung, als Missbrauch kritisiert werden, so Alexander Marković, Ph.D. am Department of Anthropology, University of Illinois-Chicago und eine Diskussionsteilnehmerin namens Cheryl mit 70 Jahren Fokloretanzerfahrung.

    2. DU SOLLST NICHT LÜGEN (täuschen, betrügen, veschweigen usw.) oder:
    Sage immer die Wahrheit über die Herkunft deines Tanzes und verschweige sie nicht.

    Diese Forderung impliziert allerdings, dass jemand, der (/die) Tänze weitergibt, sich zuvor darüber informiert, woher sie stammen. Die Berufung auf einen Tanzlehrer hilft hier nicht viel, denn – wie die mitdiskutierende Judith Cohen fragt: „Wieviel Prozent der Folkloretänze sind NICHT choreographiert, sei es von jemandem aus der Kultur oder von jemandem von außerhalb?” („What percentage of IFD is NOT choreographed, whether by someone from the culture or by someone from outside it?”)

    Andere plädieren schlicht für „Toleranz” und berufen sich auf eine „Freiheit des Tanzes” analog zur verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Rede („freedom of speech just as a dancer has freedom to dance”), auf die allgemeine, allen gemeinsame Freude am Tanzen und die divergierenden Interessen („many of them just don’t care”). Als Rechtfertigung für respektlose Manipulationen an fremdem Kulturgut können Berufungen auf „Toleranz“ und „Freiheit“ m.E. jedoch nicht gelten.

    Wenn in dieser Diskussion vermeintliche „politische Voreingenommenheiten” („political biases”) bedauert werden, zeigt sich darin nur zum wiederholten Mal, dass Folkloretänzern sehr oft nicht bewusst ist, dass gerade Folkloremusik und Folkloretanz schon seit langem Instrumente der Politik sind. Dass sie es bis heute sind, war vor ein paar Jahren z.B. in Karlsruhe auf der „Folkloria” zu beobachten, wo ein Junge mit Staatsflagge eifrig wedelnd eine türkische Tanzgruppe begleitete, oder auf dem Internationalen Folklorefestival in Varna, wo sämtliche Mitglieder einer türkischen Tanzgruppe ein Staatsemblem auf ihrer Tracht trugen. Niemand sonst tat das. Was ist ein Staatssymbol auf einer Tracht anderes als ein politisches Statement?

    Die vollständige Diskussion ist hier nachzulesen:
    https://sympa.services.net/eefc/arc/eefc/2019-06/msg00071.html

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