Otkoga

„Otkoga se e, mila moja majno ljo”- ein Lied und ein Tanz aus dem Pirin?

Nikolaj, ein in Deutschland lebender Bulgare, erzählt aus seiner Zeit am russischen Gymnasium in Plovdiv in den späten ’70er und frühen ’80er Jahren: Jeden Morgen standen die Schüler (in Schuluniform, so wie in England) schon sehr früh auf dem Schulhof. Um 7.15 Uhr wurde „Otkoga se e“, gesungen von einem Männerchor, aus dem Radio über Lautsprecher übertragen. Es war die Erkennungsmelodie der allmorgendlichen Radiosendung „Dela i dokumenti“ („Taten und Dokumente“) im Sender „Horizont”. Die Schüler stellten sich, während die Musik ertönte, ordentlich in Reihen hintereinander auf. Nach dem Ende des Liedes leitete der Lehrer für „physische Ausbildung” (fizičesko vâspitanie, dt. früher: Leibeserziehung) 15 Minuten kollektive Frühgymnastik an. Nikolaj beherrscht noch heute die ganze Bewegungsabfolge.

Auch wir kennen das Lied schon seit den achtziger Jahren, vereinzelt auch als Musik für den Tanz „Otkoga“ (manchmal als „Od koga“) in Holland, Belgien und Deutschland.

Otkoga se e (DANPT Pirin)

Otkoga – Noten: http://www.qualmendesockenoten.de/Otkoga.pdf

Ein Heldenlied aus dem Pirin?

Die uns bekannte Aufnahme kommt anscheinend aus der bulgarischen ethnographischen Region Pirin; jedenfalls stammt sie von der LP „Živa kato zemjata“ („Lebendig wie die Erde”) des DANPT Pirin, des staatlichen Folkloreensembles in Blagoevgrad (Balkanton BHA 10352 von 1979). Auf dem Plattencover wird Kiril Stefanov, musikalischer Leiter des Ensembles und renommierter bulgarischer Folklorist, als Bearbeiter des Stücks genannt, d.h. er hat es arrangiert; 1986 hat er es veröffentlicht als Volkslied aus dem Pirin.(1)  Bereits in der Liedersammlung der Brüder Miladinov (Bratja Miladinovci: Bâlgarski narodni pesni. Zagreb 1861) findet sich der Text in der Version „Ot kak sja e” (2).

Der Text unseres Liedes (in der Stefanov-Bearbeitung) lautet übersetzt:

Seit wann, meine liebe Mutter, ist die Morgendämmerung angebrochen?
Seit die Armee losgezogen ist, Pferd neben Pferd, Held neben Held, Lanze neben Lanze.
Ihre Säbel [strahlen] wie die helle Sonne, wo sie hintreten, lassen sie Quellen entstehen.
Ihr Anführer ist Zar Ivan Šišman persönlich.
In den Kampf führt sie der bulgarische Name, der bulgarische Glaube.

Im Original:

Откога се е, мила моя майно лъо,
зора зазорила,
мила моя майно лъо, зора зазорила.
Оттогаз е, мила моя майно лъо,
войска провървяла,
мила моя майно лъо, войска провървяла.
Кон до коня, мила моя майно лъо,
кон до коня, юнак до юнака, леле,
кон до коня, мила моя майно лъо,
мъждрак до мъждрака.

Сабите им, мила моя майно лъо,
като ясно слънце,
мила моя майно лъо, като ясно слънце.
Дето стъпят, мила моя майно лъо,
дето стъпят кладенчета правят, леле,
дето стъпят, мила моя майно лъо,
кладенчета правят.

Войвода им, мила моя майно лъо,
сам цар Иван Шишман,
мила моя майно лъо, сам цар Иван Шишман
В бой ги води, мила моя майно лъо,
в бой ги води българското име, леле,
в бой ги води, мила моя майно лъо,
българската вяра.
В бой ги води, мила моя майно лъо,
българското име.

Zar Ivan Šišman ist ein Held aus dem 14. Jh., der sich mit seinem Heer der türkischen Invasion entgegenstellte – wie wir wissen, am Ende erfolglos; es folgten 500 Jahre „türkisches Joch”. Der Zug in den Kampf um des bulgarischen Namens und christlichen Glaubens willen ist ein Thema vor allem der „Bulgarischen Nationalen Wiedergeburt” ab Ende des 18. Jh. Über den Heerführer Zar Ivan Šišman gibt es Heldenlieder in unterschiedlichen Versionen; Liternet dokumentiert eines mit 80 Versen (3). Solche epischen Lieder wurden an der „langen Tafel” vorgetragen und man hörte sie sitzend an – getanzt wurde dazu nicht.

Jaap Leegwater, ein herausragender holländischer Kenner der bulgarischen Folklore, weist auf den heroischen Charakter und die patriotische Nutzanwendung solcher Lieder wie „Otkoga se e” hin: „Sie dienen der Verherrlichung des Kampfes Bulgariens gegen seine Feinde, sei es während der osmanischen Herrschaft oder des sozialistischen Regimes. Auch als Soundtrack zu Propagandafilmen dieser Zeit wurden sie eingesetzt. In den Jahren des Sozialismus und Kommunismus (1944 – 1989) waren bulgarische nationalistische Lieder oft ein obligatorischer Teil des Programms von Auslandstourneen bulgarischer Musik- und Tanzensembles. Das erklärt, warum „Otkoga se e” zusammen mit anderen politischen Liedern im Repertoire des Staatlichen Ensembles Pirin auftauchte, ebenso wie auf ihren LPs. Das hatte mehr mit der damaligen Politik als mit der Folklore Bulgariens zu tun.” (4)

Unser Lied erinnert an die Praxis vor der Befreiung 1876, unter dem Deckmantel froh gestimmter Lieder revolutionäre Botschaften zu verbreiten. Der vom DANPT Pirin gesungene Text ist offensichtlich eine moderne verkürzte Bearbeitung. Gegenüber der Version der Brüder Miladinovi, mit der er sich weitgehend deckt, fällt auf, daß die aus den Huftritten der Pferde sprudelnden Quellen fehlen, daß dort deutlich mehr Strophen stehen, aber vor allem: daß Gott angerufen wird und die Helden um des „christlichen Namens, des christlichen Glaubens” willen ihr Blut vergießen werden. Solche Glaubensbekenntnisse waren im kommunistischen Bulgarien unerwünscht. Über den oft rabiaten Umgang mit überlieferten Liedern im Rahmen der damaligen Kulturpolitik haben wir an anderer Stelle ausführlich berichtet.

Die Melodie der DANPT-Pirin-Aufnahme findet sich erstmalig – zumindest nach unserem Kenntnisstand –  in der Liedersammlung („Pesnopojka”) von Vasil Stoin aus dem Jahre 1930; auch sein Text stimmt weitgehend mit der Version der Brüder Miladinovi von 1861 überein. Seine Tochter Elena Stoin nimmt 1982 das Lied aus der Sammlung ihres Vaters in ihre eigene „Pesnopojka” auf, jedoch ohne die religiösen letzten Zeilen. (5)

Eine Reihe von bulgarischen Liedersammlungen nennen als Herkunft Veliko Târnovo (Vakarelski), Samokov (Miladinovi), die Gegend von Vraca (Stoin 1928) und Nordostbulgarien (Stoin 1982), d.h. außer Samokov in der Region Šopluk liegen alle angegebenen Orte in Nordbulgarien bzw. im geographischen Bereich des historischen Zarenreichs von Târnovo. (6)

Wir vermuten daher, daß die Sammler jeweils Gewährsleute hatten, die aus verschiedenen Gegenden kamen und alle dieses Lied kannten. Mit anderen Worten: Die Herkunftsangabe bezieht sich – vermutlich immer – auf den Sänger und nicht unbedingt auf das Lied. Für das Lied würde das bedeuten: Es ist/war weit verbreitet, in mehr als einer Region bekannt, in verschiedenen Varianten des Textes (und der Melodie?). Es handelt sich also nicht um ein spezifisches Pirin-Lied. Da schriftliche Aufzeichnungen in Bulgarien erst im 19. Jh. beginnen, ist schwer zu beurteilen, ob das Lied in seiner vorliegenden Form eine spätere Umsetzung einer alten überall kursierenden Heldenerzählung ist, entstanden im Rahmen der „Bulgarischen Wiedergeburt”; die Existenz eines alten Heldenepos lange davor ist allerdings u.E. sehr wahrscheinlich.

Ein Folkloretanz?

Was hat es nun mit dem Tanz „Otkoga” auf sich?

Wer sich mit bulgarischen Regionaltypen der Folkloretänze auskennt, dem fällt sofort die erste Schrittfigur auf, zu besichtigen bei „Danskant” auf Youtube. Es ist schlicht und einfach eine trakijka, typisch für die bulgarische ethnographische Region Thrakien mit den zwei leicht „getunkten” langsamen/großen dritten und vierten Schritten (Rhythmus: kurz-kurz-lang-lang, im Zickzack vorwärts und rückwärts, wie z.B. im Pravo trakijsko horo). Nachforschungen nach dem Urheber dieser merkwürdigen Kombination von „un-pirinischen” (thrakischen) Schritten zu pirinischer Musik (7) führen in Richtung Holland. Verblüffend ist die verwegene Behauptung zum Hintergrund des Tanzes bei „Danskant”, die den Tanz in Bulgarien (!) lokalisiert: „Der Tanz ist ein Pravo horo, einer der Standardtänze in Bulgarien.” (8)

Erstmals taucht „Otkoga” als Tanz in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in Holland auf. Annelies und Erik Tijman brachten ihn 1985 nach Deutschland. Die holländische Stichting Nevofoon publizierte den Tanz mit Tanzbeschreibung in der Sammlung „Dansen voor Ouderen 12” (2010), ohne die Quelle zu nennen. Immerhin wird dort eingeräumt, daß der Tanz auf das Lied choreografiert wurde; der Autor wird nicht genannt. Außerhalb Hollands, Belgiens und Deutschlands ist er, wie eingangs erwähnt, nicht bekannt und hat auch keine große Verbreitung, auch in den USA in Italien, Frankreich oder England nicht (obwohl ja gerade diese Länder jeweils eine gut entwickelte, jahrzehntealte Folkloretanzszene haben und mit den anderen vernetzt sind). Erst recht nicht in Bulgarien. Wir befassen uns hier dennoch damit, da das Lied im Rahmen der bulgarischen Geschichte und Folklore einen besonderen Stellenwert hat und weil darüber hinaus der „Tanz” ein erhellendes Beispiel für die Praxis in der Freizeit-Folkloretanzszene in Mittel- und Westeuropa und Nordamerika darstellt.

Eine letzte Spur führt zu Corry Verheijen, von der Annelies Tijman damals „Otkoga“ lernte; leider erinnert sich Corry heute nicht mehr an ihre Quelle. (9)

Was wir aber wissen, ist folgendes: „Otkoga se e”, ein Heldenlied, das von historischen Ereignissen des 14. Jahrhunderts handelt, ist erstmals 1861 belegt. Es diente zur feierlichen Erhebung an der Festtafel und nicht zum Tanz. Sein Ursprung liegt laut mehreren Liedersammlungen in Nordbulgarien. Im kommunistischen Bulgarien gehörte es zum Pflichtrepertoire einiger Folkloreensembles und wurde von Kiril Stefanov, dem musikalischen Leiter des Staatlichen Folkloreensembles Pirin, im Pirin-Stil arrangiert. Diese Musik gefiel jemandem – vermutlich aus Holland – so gut, daß er sich dazu hinreißen ließ, ohne jede Rücksicht auf Regionalstile (oder deren Kenntnis?) einen Tanz dazu zu erfinden. Die Stichting Nevofoon kümmerte das nicht; sie adelte das Werk mit einer Publikation und brachte ungeachtet der völlig ungesicherten Quellenlage „Otkoga“ als bulgarischen Tanz aus Pirin heraus.

Ron Houston (Society of Folk Dance Historians, Austin/Texas) fragt unter der Überschrift „Was ist Folkloretanz?”: „Was in aller Welt tut Ihr?” und fährt freundlich-liberal fort: „Letztlich ist es egal, was Ihr tut, solange Ihr wißt, was Ihr tut.” (10)

Wir danken Radboud Koop, Jaap Leegwater, Eddy Tijssen, Annelies Tijman, Hedwig Schoots, Minder Minderman (Nevofoon), Bianca de Jong, Angela Reutlinger, Sybille Helmers und Corry Verheijen für die bereitwillige Mithilfe bei unseren Recherchen und die Beiträge wertvoller Informationen.


(1) Stefanov, Kiril: Narodni pesni ot Pirinskija kraj. 3. Ausgabe. Izdatelstvo Muzika, Sofija 1986

(2)  https://mk.wikisource.org/wiki/Зборник_на_Миладиновци/_Цар_И._Шишам

(3) http://liternet.bg/folklor/sbornici/bnpp/haidushki/93.htm

(4) „They are used to glorify Bulgaria’s battle against the oppressors, be it during the Ottoman Empire years or during the Socialist time. They were also used as soundtrack for propaganda movies of these eras. Under the years of Socialism and Communism (1944 – 1989) Bulgarian nationalistic songs were often an obligatory item on the foreign tour programs of many Bulgarian Song & Dance Ensembles. That explains why „Otkoga se”, along with other political songs, appeared on the repertoire of the Pirin State Ensemble, as well as on their LP records. This had more to do with the country’s politics in those days, than with folklore.” (Korrespondenz Oktober 2016)

(5) Stoin, Vasil: Narodna pesnopojka. Selska biblioteka № 9. Dâržavna pečatnica. Sofija 1930.
Stoin, Elena: Narodna pesnopojka. Dâržavno izdatelstvo „Narodna Prosveta“. Sofija 1982

(6) Stoin, Vasil: Narodni pesni ot Timok do Vita, Izdava Ministerstvoto na Narodnoto Prosvâstenie, Sofija 1928
Vakarelski, Hristo: Bâlgarsko narodno tvorčestvo v dvanadeset toma. T. ІІІ. Istoričeski pesni. Sâst. Hristo Vakarelski. Sofija, 1961 (http://liternet.bg/folklor/sbornici/bnt/3/13.htm)
Das Zarenreich von Târnovo: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Second_Bulgarian_Empire_after_1371.png

(7) Das Stück weist den typischen DANPT-Pirin-Klang auf. Dieser ist zum einen natürlich dem Instrumentarium geschuldet (ganz regionaltypisch mit viel Kaval, Gajda und Tambura ) und zum anderen auch dem Arrangement. Kiril Stefanov hatte einen recht unverwechselbaren orchestralen, auf der Musik der Region aufgebauten Arrangementstil, der ohnehin deshalb mit „Pirin“ assoziiert wird, weil das Staatsensemble als Botschafter der Region über Jahrzehnte hin überwiegend mit Stefanovs Werken zu hören war.
Sind die Melodieelemente des Arrangements pirinisch? Die Intromelodie klingt nicht unbedingt traditionell, eher wie eine Art Fanfarenruf. Die Melodie des Zwischenspiels erscheint regional austauschbar. Die im Arrangement verwendeten Skalen und Harmonisierung machen jedoch, neben den Instrumenten, den Pirin-typischen Klang aus.

(8) „Dans is een pravo horo, één van de basisdansen in Bulgarije.“ https://www.youtube.com/watch?v=Ql-AJILy8f4

(9) Korrespondenz mit mehreren niederländischen Tanzlehrern im Oktober und November 2016

(10) „What in the world are you doing? … After all, it doesn’t really matter what you do, as long as you know.” http://www.sfdh.org/rifd.php