Der in der Folkloretanzszene seit Jahrzehnten ziemlich populäre Sandansko horo aus Bulgarien verdient wegen seiner etwas schillernden Herkunft nähere Betrachtung. Es geht dabei um die Frage „Sandansko” (aus Sandanski im Pirin) oder „Strandžansko” (aus der Strandža, einer Landschaft an der Grenze zur Türkei) – Südwest- oder Südostbulgarien. Daß es sich hier keineswegs um haarspalterische Spitzfindigkeiten handelt, hoffen wir im Folgenden zeigen zu können.
Wie so oft kam die Frage auf bei der Suche nach dem Ursprung des Tanzes. Yves Moreau, einer der frühen und herausragenden Folkloretanz-Sammler Nordamerikas (Y. M. ist Kanadier), präsentierte ihn erstmals 1972 in Kalifornien, und zwar anläßlich des jährlichen Folk Dance Camps in Stockton (CA) (1), ca. 130 km östlich von San Francisco. Er hatte den Tanz 1969 von Mitgliedern eines Folkloreensembles aus Sandanski (Pirin) gelernt. Die Musik dazu hatte er im Februar 1970 in Blagoevgrad von einer ad hoc zusammengestellten Gruppe von Musikern des Staatlichen Volksmusikensembles Pirin aufgenommmen (2) und 2000 auf seiner CD „Au-delà du mystère – Beyond the Mystery Vol. 3 Šopluk-Pirin” (3) neu herausgebracht. Bis hier entnehmen wir diesen Informationen, daß der Sandansko horo, wie der Name schon sagt, aus Sandanski im Pirin stammt.
Hörprobe Sandansko horo (CD „Ajde na Horo“ Gega GD 134):
Ein Lied aus der Strandža
Überrascht (und zugegeben etwas ungläubig) erfahren wir aber, daß die ersten beiden Teile der Melodie der rein instrumentalen Aufnahme von Yves Moreau identisch sind mit dem Lied „Stojan mama si dumaše” aus der Strandža. Es gehört zum Repertoire der Sängerin Kalinka Zgurova, von der auch eine Aufnahme des Liedes existiert. (4) Dieselbe Melodie hören wir in „Ivan na Rada dumaše”, gesungen vom Eva Quartet auf der CD „Bulgarian Folklore Gifts”, Orpheus Music – ORP CD 024 (2000). (5)
Die dem Sandansko horo zugrundeliegende Melodie stammt also ganz offensichtlich aus der Strandža. Wie kam sie aber in den Pirin? Und woher stammt der Tanz?
Zur Beantwortung der ersten dieser beiden Fragen lohnt sich ein Blick in die Biographie der Sängerin: Kalinka Zgurova stammt aus der Strandža, wurde dort von dem Volkssänger Sava Popsavov entdeckt und begann ihre professionelle Karriere als Sängerin beim Ensemble „Pirin” in Blagoevgrad. (6) Möglicherweise könnte sie also ihr Lied „Stojan Mama si dumaše” aus ihrer Heimat in den Pirin gebracht haben.
Ein Tanz aus dem Pirin?
Schwieriger ist die Frage nach dem Ursprung des Tanzes. Auch wenn Yves Moreau ihn von Mitgliedern eines Folkloreensembles aus Sandanski gelernt hat (Stockton Syllabus 1972, S. 92) (1), muß es kein originaler, traditioneller Pirin-Tanz sein. Er kann ebensogut aus einer anderen Region in den Pirin importiert oder sogar (kurz zuvor?) neu geschaffen worden sein. Weder sein rhythmisches Muster noch die Schrittfiguren sind spezifisch pirinisch: Die ersten acht Schritte des Sandansko horo gleichen dem Nordbulgarischen Dajčovo. Lediglich die Schritte 11 bis 14 gleichen typischen pirinischen Džangurica-Schritten mit ihrem dreimaligen Federn auf dem Standbein, gefolgt von einem vorn gekreuzten Schritt – ein zu kleines choreographisches Element, um eine Herkunft aus dem Pirin zu begründen. (7) Jaap Leegwater teilt mit (Mail vom 10.03.2018), daß er in den Dajčovo-Schritten zu Beginn des Sandansko horo eher Grundschritte der Strandža als des Pirin erkennt; z.B. gibt es ihm zufolge einen Drei-Takt-Dajčovo im Tanzrepertoire der Strandža.
Ein spezieller Rhythmus
Der sehr eigentümliche Rhythmus des Sandansko horo, ein zusammengesetzter 22/16-Takt aus 9/16 + 13/16 mit der rhythmischen Struktur 2-2-2-3 | 2-2-2-3-2-2 (oder 2-2-2-3 | 2-2-2-3 | 2-2 = 9/16 + 9/16 + 4/16), könnte den Weg nach Westbulgarien weisen, wo komplexe Rhythmen besonders beliebt sind. In unseren (zahlreichen) Quellen aus dem Pirin findet sich jedoch keine Spur dieser Struktur aus 9+9+4 Sechzehnteln. Überraschenderweise finden sich aber in der Strandža mannigfaltige Beispiele des 9-9-4-Rhythmus und Abwandlungen davon, z.B. 9-4-9 (2-2-2-3 – 2-2 – 2-3-2-2), 9-9-5 (2-2-2-3 – 2-2-2-3 – 2-3) oder 9-9-7 (2-2-2-3 – 2-2-2-3 – 2-2-3). Mehrere Belege hierzu führen Panajot Madžarov und Mihail Bukureštliev in ihrem Buch Strandžanski narodni pesni – Iz repertoara na Kera Panajotova Madžarova (Sofija 1983) an. Kalinka Zgurova singt „Pohvalila se Marijka” in 9-9-7 auf Bulgarian Folk Songs (Voice of Strandja) Gega GD 293 (2005); von der Sängerin Magda Puškarova aus der Strandža gibt es u.a. „Bulko Kaludko” in 9-9-5 sowie das Lied „Rade le, bjalo kajrjačko” in 9-4-9, das Iliana Božanova neu arrangiert aufnahm und für ihren Tanz Radi le verwendete.
Wir können also mit einiger Sicherheit feststellen, daß Hauptmelodie und Rhythmus des Sandansko horo der Strandža zugeordnet werden können. Folglich kann auch der Tanz nicht traditionell pirinisch sein. Zwei mögliche Hypothesen bleiben übrig: Entweder stammt der Tanz ebenfalls aus der Strandža oder er wurde in jüngerer Zeit anderswo (im Pirin?) neu geschaffen. Ob sich die Mitglieder des Sandanski-Folkloreensembles nach fast 50 Jahren an Tanz und Quelle erinnern können? Es scheint eine nur lokal bekannte Choreographie gewesen zu sein, denn Yves Moreau räumte ein (Email vom 5.11.2014), daß er diesen Tanz in Bulgarien nicht noch einmal gesehen habe.
Aber wo auch immer die Ursprünge des Sandansko horo liegen – die Schritte des Sandansko horo sind u.E. absolut gelungen, geradezu genial – kann man sich etwas Passenderes vorstellen?
(1) S. Tanzbeschreibung im Stockton FDC Syllabus 1972.
Yves Moreau schrieb am 5.11.2014 in einer privaten Email: „[Sandansko horo] was part of a stage choreography by the Sandanski Folk Ensemble and the dancer who taught it to me (can’t recall his name) is the one who had mentioned that it originated from the villages of Lilyakovo and Ograzhden which straddle the Bulgarian/Macedonian Border region West of Sandanski and North of Petrich. It is quite possible that these two villages no longer exist as such or changed names or were joined together to form a new village which often happened in the past decades. I also looked on the map and could not locate them.“
Mittels des über ein Jahrhundert zurückreichenden „Bulgarian National Register of Populated Places“ konnten wir inzwischen feststellen, daß diese beiden vom Tänzer genannten Orte im Pirin nicht existieren. Allerdings gab es eine Bahnstation namens Gara Ogražden (nach 1970 das Dorf Strumaja) unweit von Sandanski und, ebenfalls in der Nähe gelegen, das noch vorhandene Dorf Liljanovo. Es ist somit nicht auszuschließen, daß es sich um diese beiden Orte gehandelt haben könnte.
(2) s. Booklet zur CD, S. 6 und 10
(3) Label Bourque-Moreau Associés BMA 1003, auf folklorediscography.org
(4) Siehe LP auf discogs.com und Lied auf YouTube.
(5) Siehe CD auf discogs.com und Lied auf YouTube
(6) Details s. Bulgarische Wikipedia
(7) Tanzbeschreibungen: (engl.) Stockton Syllabus 1972, S. 92, (deutsch) herwigmilde.de