In seinem ursprünglichen Umfeld, d.h. in der vorindustriellen Dorfgemeinschaft, ist der Volkstanz in vielfältige Bezüge eingebunden. Der Tanz steht nicht allein für sich; er steht in kulturellen, historischen, spirituellen und sozialen Kontexten. Nur aus diesen Bezügen ist der Tanz wirklich zu verstehen. Auf den sozialen Kontext geht Anca Giurchescu in ihrem Buch über den traditionellen rumänischen Tanz (1) systematisch und detailliert ein. Dabei werden Dimensionen deutlich, die uns als Freizeittänzer ins Grübeln bringen. Wir folgen ihren Ausführungen ab Seite 25.
In der rumänischen Kulturtradition wird jedes Stadium im Lebenslauf eines Menschen begleitet von Übergangsriten. Fast immer gehört Tanz dazu. (2) Wohlgemerkt: Primär ist das Ritual, Tanz ist ein konstitutives Element unter anderen. Hierzu einige Beispiele, die seine Einordnung verdeutlichen.
Rituelle Anlässe
Beispiel 1:
Hebammentag „Ziua moașei” in Maramureș:
Mütter besuchen ihre Hebamme, bringen Geschenke, waschen ihr die Hände und das Gesicht und bitten um Verzeihung wegen der Mühen, die sie mit ihren Entbindungen hatte. Die Hebamme küßt darauf jede von ihnen und wünscht den Kindern Gesundheit und Glück. Während der ausschließlich von Frauen besuchten Geselligkeit werden Lieder mit dem Anlaß entsprechenden Texten gesungen, vom Gesang begleitete Tänze (Roata femeilor) getanzt und viele strigături (rhythmische, meist humoristische Verse) gerufen. Letztere dienen insbesondere dazu, die ausgelassene Stimmung, die dieser Gelegenheit eigen ist, noch weiter zu heben. Der Hebammentag heißt in der Donauebene Babinden (Großmuttertag). Die Tänze dieser sehr alten Version der Festlichkeit stammen einerseits aus dem allgemeinen Repertoire; hinzu kommen andererseits komische und sexuelle Nachahmungstänze, die in der Vergangenheit wahrscheinlich die Fruchtbarkeit fördern sollten. (3)
Beispiel 2:
Legarea surorilor („Schwesternschwur”) oder Surăția aus dem Kreis Vrancea (Moldau), ein Übergangsritus des Jugendalters:
Am Montag nach Ostersonntag versammeln sich Mädchen von 11 bis 15 Jahren in Begleitung eines Geigers zu einem zeremoniellen Essen, dem ein erwachsener Mann, fîrtat (Bruder) genannt, vorsitzt. Der fîrtat beginnt die Zeremonie, indem er über gebackene Kringel („colaci”) das Kreuzzeichen macht. Die Mädchen tauschen bunte Eier, Blumen und die colaci, küssen sich gegenseitig auf die Augen und sprechen dreimal den Eid „wir bleiben Schwestern bis zum Tod, in dieser und der nächsten Welt”. Als Teil ihrer Einführung (Initiation) in das gesellschaftliche Leben der Erwachsenen veranstalten die Mädchen eine Dorf-Hora, die an diesem Tag „Mädchen-Hora” heißt. Sie sind die ersten auf dem Tanzplatz, haben das Vorrecht, die Musikanten zu engagieren, die Musik auszuwählen und die Burschen einzuladen, mit ihnen zu tanzen. (4)
Mit Bedacht haben wir zunächst zwei weniger herausragende Beispiele ausgewählt; klarer als bei den Hochzeitszeremonien wird hier deutlich, daß der Tanz eingebettet ist in ein Geschehen, das dem Tanz übergeordnet ist. Es handelt sich dabei oft nicht um spezielle rituelle Tänze, sondern um solche aus dem allgemeinen Repertoire. Es wird auch getanzt, neben anderen Handlungen, und der Tanz dient der Gesamtzeremonie, er ist nie Selbstzweck. Das gilt sogar für rein gesellige Veranstaltungen wie die bulgarische Sedjanka oder die rumänische Șezătoarea – Entsprechungen unserer Spinnstuben – die vordergründig der gemeinsamen Handarbeit, im Kern jedoch der Geselligkeit und dem Zusammentreffen von Mädchen und Burschen und unter anderem auch Gesang und Tanz dienten. Auch hier ordnet der Tanz sich in ein größeres und vielfältiges Gesamtgeschehen ein.
Nicht einmal der Dorftanz, die rumänische Hora bzw. der bulgarische Horo (5), stellt den Tanz als ausschließliches und alleinstehendes Ereignis ins Zentrum des Geschehens. Auch hier ist er eingebettet in zahlreiche und vielfältige soziale Aktionen und unterliegt einer Reihe von nicht-choreographischen Regeln, ja er hat bedeutende Funktionen im dörflichen Zusammenleben, die über das reine Tanzen weit hinausreichen.
Um wieviel stärker ist – erwartungsgemäß – die rituelle Funktion und damit die Einbindung der Tänze in spirituelle und symbolische Zusammenhänge im Ablauf der Hochzeitszeremonien.
Beispiel 3:
Teil der Präliminarien einer Hochzeit ist das zeremonielle Herrichten der Hochzeitsfahne. Im Maramureș wird dabei ein Bărbătescu getanzt, ein Männertanz aus dem allgemeinen Repertoire, dem jetzt die rituelle Funktion der Trennung zugeschrieben wird. Dabei umkreisen die Männer einen Tisch dreimal und schwenken dabei die Fahne, um den Bräutigam zu verabschieden, der nun die Gruppe seiner ledigen Altersgenossen (peer group) verläßt. Normalerweise bewegt der Bărbătescu sich gegen den Uhrzeigersinn. In diesem Kontext wird er im Uhrzeigersinn getanzt; dies verweist auf den Lauf der Sonne und damit auf Wohlstand und Fruchtbarkeit. (6)
Beispiel 4:
Danach gehen die Männer zum Haus der Braut, wo die Brautjungfern die Brautkrone vorbereitet haben. Hier folgt wieder ein ritueller Abschiedstanz, bei dem die Brautjungfern nacheinander die Brautkrone aufsetzen und mit dem Fahnenträger tanzen. Die Braut nimmt nicht am Tanz teil; dies trennt sie sowohl physisch als auch symbolisch von ihren ledigen Altersgenossinnen. (7)
Beispiel 5:
Beim „Führen der Braut zum Wasser” geht die Braut in Begleitung eines jungen Mannes und einer Prozession zu einer nahegelegenen Quelle. Dort wir ein Eimer dreimal mit Wasser gefüllt und dreimal von der Braut umgestoßen. Dann tanzen alle eine Hora um den Eimer, während die Braut Wasser in die vier Himmelsrichtungen schüttet; dieses rituelle Element enthält die doppelte Symbolik von Reinigung und Fruchtbarkeit. (8)
Die letzten drei Beispiele mögen verdeutlichen, in welch hohem Maße selbst „gewöhnliche” Tänze wie die Hora oder der Bărbătescu verwoben sind mit sozialem und rituellem Geschehen, gelegentlich diesem angepaßt werden (Tanzrichtung) und aus diesem Kontext eine Bedeutung und Kraft beziehen, die ihnen beim bloßen „Laßt-uns-mal-was-tanzen” nicht zukommen. Sie sind wie magisch aufgeladen und wirken dadurch erhebend und bindend auf die Tänzer zurück.
Gesellige Anlässe
Das gilt in schwächerem Maße jedoch auch für die lediglich geselligen Tanzgelegenheiten. Im traditionellen Dorfleben tanzt niemand ohne Anlaß in einem x-beliebigen Moment; dem Tanz geht immer ein Geschehen in der Gemeinschaft voraus, und sei es nur ein Familientreffen, das aber mit Erzählen, Scherzen, Essen, Trinken, Singen über Stunden langsam zu einer Steigerung der Stimmung und der inneren Bewegung hinführt, die sich schließlich – als notwendige Folge – im Tanz einen angemessenen Ausdruck zu verschaffen sucht.
Der westliche Freizeittanz
Wenn wir in unserem Freizeittanz dagegen aus dem einzigen Grund, „weil jetzt Mittwoch 18.00 Uhr ist”, tanzen, fällt der ganze Reichtum an sozialen, kulturellen und symbolischen Bezügen völlig weg, das emotionale und spirituelle Erleben erreicht niemals – höchstens ausnahmsweise – die Höhe, die es ursprünglich hatte, als der Tanz noch in seinem historisch und gesellschaftlich gewachsenen Umfeld lebte (ganz abgesehen davon, daß dies für uns kulturell fremde Tänze sind und es trotz aller Bemühungen um Aneignung bleiben). Es schadet uns sicher nicht, genauer hinzuschauen, was der ins Dorfleben eingebettete Tanz einmal war, und wie weit wir Freizeittänzer und -tänzerinnen (falls die Geschlechterdifferenz hier eine Rolle spielen sollte …) davon entfernt sind. Wir haben immer gedacht, wir machen dasselbe wie die … – Was für eine gradiose Selbsttäuschung!
Ein Vergleich sei mir verziehen: Die „Tänze der Völker” kommen mir in unseren Kreisen vor wie Leoparden in Zoogehegen; sie sind ihrer Kraft, Schönheit und Macht weitgehend beraubt, die in ihren ursprünglichen Zusamenhängen doch eigentlich ihr Wesenskern sind. Übrig bleibt im Freizeittanz eine eher farb- und kraftlose, nicht selten auch würdelose Kopie ohne die einstige Bedeutungsfülle.
Daß diese Tänze sich auch in ihren Ursprungsländern ebendahin entwickeln – und nicht erst jetzt, wie man am Beispiel des Căluș beobachten kann, siehe den Artikel hierüber in diesem Internetmagazin – kann uns kein Trost sein. Es trägt eher zur Trauer über die Verheerungen des modernen Fortschritts bei.
Anmerkung (18.10.2021)
In ihrer Anthropologie des Tanzes schreibt Anya P. Royce:
„Ein Grund für die Untrennbarkeit von Tanz und Kultur, außer für analytische Zwecke, ist die Untrennbarkeit des Tanzes von seinem Erzeuger und Ausdrucksmittel. Die Erzeuger und Instrumente leben in einem kulturellen Kontext, der sie und ihren Tanz formt. Tanz existiert nicht getrennt von Tänzern. Wir müssen daher nicht nur auf die Form des Tanzes schauen, sondern ebenso die Bedeutung beachten, die er für die Menschen hat, die ihn schaffen, ausführen und betrachten.” (9)
Was tun wir demnach im Freizeittanz (recreational international folk dancing – RIFD, die Freizeit-Folkloretanzbewegung, in den USA seit über 100 Jahren, hierzulande erst seit den Fünfzigern)? Der laut A. P. Royce nicht von seiner Kultur zu trennende Tanz wird vom (eingeborenen) Tänzer und seiner Kultur, in die er eingebettet war, getrennt. Der RIFD, der auf Geselligkeit und Unterhaltung abzielt, interessiert sich tendenziell ausschließlich für den Tanz, jedoch nicht im Sinne eines vertieften Wissens und Verstehens der Menschen, denen er gehört. Er verändert ihn automatisch und unmittelbar durch die Übertragung auf nicht-authentische Tänzer (s.a. Laušević!) (10).
Trachten, Singen, Kochen – einschließlich des „Andersseins” der „Balkantänzer” (11) – sind so lange pure Maskerade, wie sie nicht getragen sind von vertieftem Kulturstudium; dieses gehört jedoch ausdrücklich nicht zu den Zwecken des RIFD. Der verdiente US-amerikanische Folkloretanzlehrer Dick Crum fühlte sich veranlaßt, Tänzer, die sich offenbar in „Balkanesen” zu verwandeln versuchten, daran zu erinnern, daß sie niemals Bulgaren werden konnten, so sehr sie sich auch bemühten, die Sprache zu lernen, Gerichte zu essen und in die bulgarische Folklore einzutauchen (Shay 2008, S. 112). Die Annäherung der Balkantänzer an den Balkan fand eher auf einer Gefühls- und Erlebnisebene statt und folgte nationalistischen Mythen; wissenschaftliche ethnologische und kulturanthropologische Studien über traditionellen Tanz tauchten erst ab den 1960er Jahren auf; Gertrude Kurath forderte 1960, Tanz zum Gegenstand der Anthropologie zu machen (12).
Weiter schreibt A. P. Royce 1977:
„Erst seit kurzem haben wir angefangen, über die Analyse der Form hinaus zu untersuchen, wie sie die auf den Tanz bezogenen kulturellen Normen und Werte formt und von diesen geformt wird.” (13)
En Beispiel dafür ist der Wandel in der Folkloretanzpraxis in SO-Europa: Folkloretanz dort wird durch kulturelle Normen geformt in Richtung Freizeit-Unterhaltung und Bühnendarbietung – jedoch mit anderen Konnotationen als im Westen. Bulgarische (rumänische, serbische …) Freizeittänzer sind und bleiben eingebettet in ihre – wenn auch gewandelte und sich wandelnde – Kultur.
(1) Giurchescu, Anca, Sunni Bloland: Romanian Traditional Dance, a contextual and structural approach (Bukarest 1992)
(2) „The life cycle rituals are highly developed and stable and almost all of them include dancing.” a.a.O. S. 27
(3) „At a typical midwife celebration the mothers bring gifts to the midwife at her house. Here they wash her hands and face, asking to be forgiven for all the hardships she has endured helping them to bring new life into the world. The midwife then kisses each mother, extending her best wishes for their childrens‘ health and happiness. The ceremonial, attended exclusively by women, includes songs with texts specific to this occasion as well as vocal dances (Roata femeilor) and lots of strigături (special stylized shouts). The latter especially help to enliven and amplify the very high spirits which characterize this occasion (Comanici, G. 1982). Midwife’s Day on the Danube Plain is called Babindeni (sic!) (Old Woman’s Day). While the dances associated with this very ancient version of the ceremony are drawn from the common repertoire, also included are comic and sexual imitative dances which in the past were likely to have had fertility and fecundity functions.” a.a.O. S. 29
Siehe auch Herwig Milde: Die bulgarische Tanzfolklore (2004) S. 51 f
(4) „One of the richest variants of this old custom exists in j. Vrancea (Moldavia) where it is called Surăția (sisterhood). On the Monday following Easter Sunday, girls 11 to 15 years of age, accompanied by a violinist, gather for a ceremonial meal which is presided over by a male adult called fîrtat (brother). The fîrtat initiates the ceremony by making the sign of the cross over ring-shaped cakes called colaci. The girls exchange painted eggs, flowers, and the colaci after which they kiss each other on the eyes and three times recite the oath „we shall be sisters unto death, in this world and in the next.“ As part of their initiation into adult social life the girls also organize a Village HORA, called Girls‘ HORA on this day. They are the first to arrive at the dance, have the prerogative to hire the musicians, request the music, and even to invite the boys to dance with them.” a.a.O. S. 29
(5) Hora und Horo hier als Ereignis im Gegensatz zu Hora und Horo als Tanztyp. Vgl. „Der bulgarische Horo“ auf herwigmilde.de.
(6) „The act of separation, as mentioned earlier, is often ritually signified through the symbolic nature of certain dances. In Maramureș, for example, the preliminary ceremony of sewing the flag is concluded by Bărbătescu, a men’s dance derived from the common repertoire and ascribed the ritual function of separation. In this dance the men circle a table three times while carrying and shaking the flag; this signifies a farewell to the groom who is taking leave of his bachelor peer group. Normally the dance is performed in a counterclockwise direction. In this context, however, it moves clockwise which alludes to the direction of the sun and thus to prosperity and fertility.” a.a.O. S. 31
(7) „Afterward the men go to the bride’s house where the druște (bridesmaids) have been preparing the bride’s crown. Again, a ritual farewell dance follows in which each bridesmaid in turn wears the crown and dances with the flag carrier (stegar). The bride does not participate in the dance and thus it serves to separate her both physically and symbolically from the remainder of her unmarried peer group.” a.a.O. S. 31
(8) „Leading the Bride to the Water is a ceremony which takes place early Sunday morning in the Danube Plain region. The bride, escorted by a young man and followed by a procession, walks to a nearby fountain. (Photo 3.) There a decorated bucket is filled three times with water, and three times it is kicked over by the bride. Then a Hora is danced around the bucket as the bride splashes water in the four directions of the cross. This ritual moment has the dual significance of purification and fertility.” a.a.O. S. 31
(9) „One reason for the inseparability of dance and culture, except for analytical purposes, is the inseparability of dance from its creator and instrument of expression. The creators and instruments live in a cultural context that shapes them and their dance. Dance does not exist apart from dancers. We must, therefore, not only look at the form of dance but consider as well the meaning it has for the people who create it, do it, and watch it.” Anya Peterson Royce: The Anthropology of Dance (1977, 2002) S. 214.
(10) Lauševic, Mirjana: Balkan fascination – creating an alternative music culture in America (2007)
(11) vgl. Shay, A.: Dancing Across Borders (2008) S. 111 ff
(12) A. P. Royce (1977, 2002), S. 16
(13) „… only very recently have we begun to go beyond the analysis of form to consider how it shapes and is shaped by cultural standards and values relating to dance.” a,a,O. S. 216