Izgrjala e mesečinka: Luna und die Frauen

Im September 2020 entwickelte sich im East European Folklife Center (EEFC) eine lebhafte und interessante Mail-Diskussion über das Lied „Izgrjala e mesečinka” (1). Zahlreiche Folkloretänzer und Experten trugen viele Details über Quellen und volkskundliche Aspekte bei. Es lohnt sich, diese hier für unsere Leser zusammenzufassen. Außerdem ist der Liedtext ein schönes Beispiel für den Themenbereich Mond und Weiblichkeit.  

Das Lied findet Verwendung bei vier Tänzen, die in unserer Freizeittanzszene eingeführt wurden:  
1. Yves Moreau 1998 für den Tanz „Drjanovska răčenica”, 
2. Irena Staneva 2000 für einen Tanz unter dem Titel des Liedes,
3. Jaap Leegwater (Zetten/NL 2005) für einen gleichnamigen Tanz, 
4. Irena Staneva 2018 für einen Tanz unter dem Namen „Trakijska râcenica”.

Der Liedtext

Izgrjala e mesečinka handelt davon, daß der Mond (weiblich wie in den meisten europäischen Kulturen) aufgegangen ist und den Garten beleuchtet. Irina ist dort, um sich ein buntes Sträußchen zu pflücken, das in den bulgarischen Volksbräuchen für die jungen Mädchen und ihre Beziehung zu den jungen Burschen eine zentrale symbolische Rolle spielt. Im Refrain wird „sie“ (der Mond) besungen als leuchtend rote, sanfte, zärtliche, honigsüße Seele – lauter weibliche Qualitäten, die in der Liebe höchste Wertschätzung genießen (die rote Farbe symbolisiert in der bulgarischen Volkslyrik alle positiven Qualitäten des Lebens, vor allem Gesundheit, Fruchtbarkeit, Schönheit). 

1. // Изгряла е месечинка. //
Реф.: // Аляна, галяна, портокаляна, 
блага душка медена, шикеряна. //
2. // Че огряла в градинчица. //
3. // В градинчица – Иринчица. //
4. // Да си бере пъстра китка. //

1. // Izgrjala e mesečinka //
Refrain: // Aljana, galjana, portokaljana,
blaga duška, medena, šikerjana. // 
2. // Če ogrjala v gradinčica //
3. // V gradinčica – Irinčica //
4. // Da si bere pâstra kitka //  (2)

Der Mond war aufgegangen. / Rote, liebe, orangefarbene, sanfte Seele, honigsüße, zuckersüße. / So schien er auf das Gärtchen. / Im Gärtchen war Irinčica, / um einen bunten Strauß zu pflücken. 

Anmerkungen
mesečinka: Diminutiv von mesečina/месечина – Mond
aljana, galjana” sind weitere Qualifizierungen wie die übrigen (orange, süß …): 
aljana: (alena) leuchtend rot (PONS online Wörterbuch)
galjana: (galena) zärtlich, allerliebst (PONS) (3) 
blaga: sanft, mild; blaga duša: sanfte Seele (duška = Diminutiv/Koseform von duša; PONS)
šikerjana: (šekeren/шекерен) (zucker)süß (Gaberoff und http://rechnik.chitanka.info). 
Irinčica: Diminutiv von Irina; alle Substantive des Liedes stehen im Diminutiv – mesečinka, duška, gradinčica, kitka -, auch der Name Irinčica (Irenchen), womit die zärtliche, liebevolle Grundierung des geschilderten Geschehens unterstrichen wird.

Welche Izgrjala e mesečinka?

Martha Forsyth (4) merkt an, es gebe „zillions of songs that begin with the words ‚Izgrejala mesečinka’” – unendlich viele Lieder mit dieser Anfangszeile. Selbstverständlich beschränken wir uns hier auf das eine Lied, das für die oben erwähnten Tänze verwendet wird; seine Einspielungen haben dieselbe Melodie und denselben Text. Martha Forsyths Begründung für diese Vielzahl liest sich allerdings überraschend: 

Bestimmte Lieder werden zu einer bestimmten Tageszeit (oder einem genauen Moment im Verlauf eines Rituals) gesungen. Diese ersten Liedzeilen benennen einfach die genaue Tageszeit, zu der das Lied gesungen wird, und nicht, wovon es handelt – sie haben rein gar nichts zu tun mit dem weiteren Inhalt des Liedes. Dazu erzählt sie eine Anekdote, die diese Funktion des Liedanfangs auf überraschende Weise verdeutlicht: 

Die „Bistrica Babi”, eine a-cappella-Gesangsgruppe, zu der auch Linka Gergova gehörte, über die M. Forsyth ihr erwähntes Buch geschrieben hatte, kamen 1990 nach New York. M. F. brachte sie mit Kleinbus und Chauffeur zur Unterkunft; gerade als sie über die Verrazzano Bridge fuhren, hoben die Bulgarinnen an zu singen: Mori, slânceto e na zaoda – „Die Sonne geht jetzt unter” – und das war genau, was in diesem Moment passierte. Dieses Lied ist ein Erntelied; es gibt einfach nur die Zeit an, zu der es gesungen wird. (5)

Carol Silverman, Anthropologin an der University of Oregon, gibt zu bedenken (6), daß nicht alle Lieder mit einer solchen formelhaften Anfangszeile die Zeit für den Liedvortrag festlegen. Solche Liedanfänge in allgemein bekannter Form signalisieren den Zuhörern, daß sie ein traditionelles Lied hören und beschreiben oft die Ausgangssituation: Der Wind wehte …, Die Mädchen versammelten sich …, Die Mutter sprach zu Stojan … usw. Was es mit der Anfangszeile auf sich hat, zeigt sich erst bei Betrachtung des ganzen Liedes – ob also die genannte Tageszeit (hier: Mondaufgang) außerhalb (Liedvortrag) oder innerhalb des Liedes (Handlung) Gültigkeit besitzt. Formelhafte Liedanfänge sind auch aus anderen Traditionen bekannt, so z.B. bei rumänischen Liedern: „Foaie verde siminoc” (Grünes Blatt der Strohblume – Ciuleandra), „Frunză verde busuioc” (Grünes Laub Basilikum – Huțulca), „Foaie verde grâu mărunt” (Grünes Blatt kleines Korn – Coconița), „Foaie verde untdelemn” (Grünes Olivenblatt – Hora fetelor), u.v.a.. 

Herkunft von Lied und Tanz

Bei der Frage nach der Herkunft ist die Lage – wie so oft – uneindeutig. 

Wir müssen offensichtlich Lied und Tanz getrennt betrachten, da beide keine ursprüngliche Einheit darstellen; vielmehr haben verschiedene Tanzlehrer bzw. Choreographen zu diesem Lied jeweils ihre eigene Tanzvorstellung realisiert. Die Tänze kommen mal aus Thrakien (Irena Staneva), mal aus Nordbulgarien (Yves Moreau, Jaap Leegwater). 

Das Lied verortet Jaap van Beelen in Kotel am Nordabhang des Balkangebirges, von wo es mit der Transhumanz (7) zwischen Stara Planina und Dobrudža in letztere eingewandert sei. Dafür spricht nach seiner Darstellung der ruhige, besonnene Stil der Begleitung (bg. mădăr/mădra/mădro – мъдър/мъдрa/мъдрo) (8). Im übrigen waren die Schäfer sehr oft Musikanten (Flöten-, Dudelsack-, Gădulka-Spieler). Selbstverständlich brachten sie im Herbst nicht nur Schafe, sondern auch ihre Musik in die Ebenen der Dobrudža. 

Yves Moreaus Tanz Drjanovska răčenica verweist im Titel auf Drjanovo, eine Stadt ebenfalls am Nordabhang des Balkangebirges (Stara Planina) gut 100 km westlich von Kotel. Dessen grundlegende Elemente stammen vom Sider-Vojvoda-Ensemble aus Gorna Orjahovica, so ist es aus der Tanzbeschreibung zu der Sammlung „Mix 7” der Syncoop Producties zu erfahren. Damit ist der Tanz der ethnographischen Region Nordbulgarien zuzuordnen, wie Yves Moreau es auch in seinen einleitenden Worten auf seiner Videoaufnahme des Tanzes sagt. Jaap Leegwater spricht ebenfalls in seinem Tanzvideo von Drjanovo und Nordbulgarien. (Genauer sagt Y.M. „North-East” und J.L. „Nord-Mittel-Bg.”.) Seine Choreographie enthält im ersten Teil Elemente der thrakischen Svatbarska răčenica und im zweiten Teil u.a. gekreuzte Scheren mit Kreuzschritten am Platz. Irena Staneva ordnet ihre beiden Tänze wie gesagt in Thrakien ein. Der erste von ihnen („Izgreala e Mesecinka”, 2000), ein Frauentanz, zeichnet sich vor allem durch ausdrucksvolle, weiche Handbewegungen aus, wogegen der zweite („Trakijska răčenica”, 2018) identisch ist mit dem, den wir bis dato als Svatbarska răčenica kannten.  

Dementsprechend werden die Einspielungen mal in Nordbulgarien eingeordnet (Trio Bălgarka-Penev (9)), mal in der Dobrudscha (Verka Siderova (10)). Dies sind die beiden Aufnahmen, die für die Tänze verwendet werden: Trio Bălgarka-Penev für Yves Moreaus Drjanovska răčenica und für Irena Stanevas „Izgreyala e mesečinka”, sowie Verka Siderova für Irena Stanevas Trakijska răčenica
Jaap Leegwater verwendet ein überwiegend instrumentales Arrangement des Liedes unter dem Titel  „Izgrjala e mesečinka”. 

Das dreistimmige Vokalarrangement Dimitâr Penevs greift vermutlich auf Verka Siderovas Aufnahme zurück, da Text und Duktus identisch sind. Der moderne Chorsatz bleibt nahe am Originalgesang; fast schlicht, aber durchaus wirkungsvoll gesetzt, allerdings ein – wenn auch sehr moderates – Beispiel für den Kompositionsstil des sozialistischen Bulgarien (1944 – 1990) mit seiner speziellen Auffassung von „Folklore”, die sich schon ziemlich weit entfernt vom traditionellen Charakter früherer, traditionellerer bulgarischer Folkloremusikpraxis. Dennoch – insgesamt ein schönes Arrangement, das im Ohr bleibt.

Hörproben

Izgrjala e mesečinka – Trio Bălgarka-Penev
Izgrjala e mesečinka – Verka Siderova


(1) Es existieren nebeneinander verschiedene Schreibweisen für изгряла/izgrjala: izgreala, izgrejala, izgreyala, izgriala u.ä.; wir setzen die kyrillische Schreibung nach ISO/R 9 eins zu eins in lateinische Schrift um – das ergibt „izgrjala”.

(2) Text nach JWK/Folkloretanznoten.de, nach der Aufnahme des Trio Bulgarka-Penev, CD „Folk Songs“, GegaNew GD 171 (1994)

(3) Die Lautung „ja” für Standardbulgarisch „e” kennzeichnet die Dialektform unseres Liedtextes. In dem Lied „Ogrejala mesečina šekerna” lauten die entsprechenden Worte: „Aleno, galeno, dragaj dušo medena”.

(4) Martha Forsyth, Slawistin, hielt sich mehrere Male zu Feldforschungszwecken in den 70er und 80er Jahren in Bulgarien auf; Autorin des Buches „Listen, Daughter, and Remember Well“, Sofia 1996, einer Biografie der Volkssängerin Linka Gekova Gergova aus Bistrica mit Hunderten ihrer Lieder.

(5) „’Izgrejala (or Ogrejala) mesečinka’ (‚The moon rose/started shining‘) is a phrase that begins a huge number of songs! And in 1990 I abruptly learned why. As a researcher, I know that specific ’songs’ (…) are sung at a specific time of day, or specific moment during a ritual (e.g., wedding). That’s the background. Now the story:
In 1990, when the Bistrica Babi came to visit the US, I met them at the airport with a van and a driver, and we headed across the Verrazzano Bridge in New York towards where we were staying that night. Suddenly they all burst into song. And what was the song? ’Mori, slânceto e na zaoda …’ (‚The sun is juuust beginning to set‘) – and that was exactly the time of day it was! That particular ’song’ in Bistrica is a harvest song – and that first line specifies the time of day to sing it, BUT HAS NOTHING FURTHER TO DO WITH THE SONG!
This would be the case with all the zillions of songs that begin with the words ’Izgrejala mesečinka’! Those words (in the long past) pinpoint what time of day to sing it … NOT what it’s about.” Mail EEFC 3.09.2020

(6) Mail EEFC 3.09.2020

(7) Wanderweidewirtschaft

(8) „About the song ’Izgreala e Mesečinka’, to my information the song originates from Kotel, and like more songs from Kotel migrated to Dobrudzha. In the Verka instrumental accompaniment you can still recognize the ’madre’ style so typical for Kotel songs. This could be as a side part of the Transhumance (seasonal migration of the sheep herds) between Kotel and Dobrudzha.” Mail EEFC 3.09.2020

(9) Gega new GD171 (1994)

(10) „Dobrudžanski narodni pesni“, Balkanton BHA 10892 (1982).
Möglicherweise kam die Aufnahme auch schon auf der Single Balkanton ВНК 2837 in den 1970er Jahren heraus; allerdings mit einem anderen Begleitorchester. Uns fehlt eine Vergleichsmöglichkeit. Der Arrangeur ist jedoch in beiden Fällen Ivan Kirev.