Kalač – ein Tanz in vier Rhythmen

Betrachtet man allein die Schritte des Kalač, handelt es sich um einen unspektakulären Tanz im Standard-Dreitaktmuster des Färöischen Balladenschritts (R L | R – | L – ). Dieses Muster ist hier erweitert um Kreuzschritte und vorgeschaltete „Čukče”(Wipp)-Elemente, mehr nicht (w R w L | w R LX R | w L RX L ) (1). 

Wir haben es aber mit einem serbischen Tanz aus dem Kosovo (Prizren) zu tun, der trotz seiner eher banalen Schrittfolge gleich mehrere interessante Besonderheiten aufweist. Dies sind seine rhythmischen Variationen, und zwar vier verschiedene, seine Suitenform und die ungebundene Tanzform mit Tüchern. Darüber hinaus haben wir dafür bis in das Jahr 1937 zurückreichende autoritative tanzgeschichtliche Belege. Das ist bezüglich der Beschreibung eines Tanzes recht beachtlich. In der Regel beginnen die uns zugänglichen Dokumentationen erst nach dem 2. Weltkrieg. Der Reihe nach:

Drei Quellen

Zuletzt haben wir Kalač im Jahre 2011 bei Vladimir Tanasijević (* 1971) gesehen. Das erste Mal ist er uns 1984 begegnet, als Desa Djordjević (* 1927) an den Oster-Tanztagen in Obersteinbach/Mittelfranken mitwirkte. Beide haben übereinstimmend die vier rhythmischen Varianten gelehrt: den 2/4-, 3/4-, 5/4- und 9/8-Takt (2). Bei Vladimir Tanasijević konnte man die „Zugaben” der Männer, tiefe Hocksprünge und Pirouetten sowie den Männerstil mit der höheren Anhebung des freien Fußes nach vorn sehen, bei Desa Djordjević dagegen den zurückhaltenderen Frauenstil und die anmutigen Bewegungsverzierungen der Frauen und der Männer mit Tüchern.

V. Tanasijević erwähnt noch ein nicht uninteressantes historisches Detail: Die in der kosovarischen Stadt Prizren lebenden Serben waren i.a. reich und trugen in jeder Hinsicht reiche, schwere Trachten; so erklärt sich der zurückhaltende Tanzstil.

Vier Rhythmen

Wie wird nun aber eine grundlegende Schrittfolge auf unterschiedliche Takte (Rhythmen) angewandt? Bei ungeraden Rhythmen (5/4, 9/8 usw.) sind einzelne Taktteile länger als die anderen; meist hat ein Taktteil statt zwei Achteln drei Achtel. So enthält ein Dreivierteltakt sechs Achtel (2-2-2), beim 7/8-Takt ist ein Schlag länger: 2-2-3. Entsprechendes gilt für Takte, die in Sechzehnteln ausgedrückt werden. Beim 3/4- und beim 5/4-Takt ist der ganze Takt um einen Schlag länger. Für die Schritte bedeutet dies: In die Bewegungsabfolge wird eine Verzögerung eingebaut. Beim 2/4-Takt fällt auf jedes Viertel eine Bewegung (Schritt oder Wipp); beim 3/4-Takt haben wir nach jedem zweiten Schlag eine Verzögerung – aus zwei wird drei bei gleicher Taktzahl (6 Takte für die Grundfigur). Beim 5/4-Takt entfallen die Bewegungen von zwei Takten des 2/4-Taktes (= vier Viertel) auf einen Takt, plus Verzögerung nach Schlag 2 (4+1 = 5, oder kurz – lang – kurz – kurz). Der 9/8-Takt übernimmt ebenfalls die Bewegungen von zwei Takten des 2/4-Taktes in einen Takt mit vier Schlägen, von denen aber der vierte verlängert ist (2-2-2-3, kurz-kurz-kurz-lang).

Die Tanzbeschreibungen stehen auf herwigmilde.de.

Bemerkenswert finden wir, daß all dies, die Schrittfolge, ihre Anpassung an verschiedene Rhythmen, der Einsatz von Tüchern und die suitenartige Aneinanderreihung der vier rhythmischen Varianten (3), bereits 1937 bei den beiden Altmeisterinnen der serbischen Volkstänze, Ljubica und Danica Janković beschrieben ist (4). Dies spricht für eine ziemlich reine und unverfälschte Bewahrung der Tanztradition ohne neuere choreographische Beifügungen bzw. „Verbesserungen”.

Nur in zwei Details unterscheiden sich unsere drei Quellen: L. u. D. Janković beschreiben den Tanz auf der Kreisbahn nur nach rechts fortschreitend, während Vladimir Tanasijević und Desa Djordjević immer einmal vollständig nach rechts und die Wiederholung nach links tanzen. Darüberhinaus beschreiben L. u. D. Janković eine weitere Variante auf den 3/4-Takt, die bei Djordjević und Tanasijević nicht mehr auftaucht (s.u. „3/4 (b)“ und „Figur V“).

Fünf Melodien

Sowohl bei den Einspielungen der Kalač-Melodien, die Desa Djordjević verwendete, als auch bei denen von Vladimir Tanasijević fällt im Vergleich zur Melodienotation der Janković-Schwestern folgendes auf:

Die Instrumentalfassung des 5/4-Kalač ist eine Variation über die Liedmelodie von Oj, mori, frbo zelena (auch bekannt als Oj, mori vrbo zelena; „Oh, du grüne Weide“). In „Narodne Igre II“ wird das Lied als optionale Begleitung zum Tanz vorgestellt, im Musikprogramm beider Tanzlehrer aber nicht gesungen.

Die Melodie 3/4 (b) für Figur V ist bei Desa Djordjević gar nicht zu hören; die von ihr verwendete Musik beläßt es bei der 3/4-(a)-Variante. Bei Vladimir Tanasijević hingegen enthält der 3/4-Teil die ganze 3/4-(a)-Musik und die Hälfte der 3/4-(b)-Notation – zusammengefaßt betrachtet schon die ganze Melodie, da die Variante 3/4 (b) aus einer viertaktigen Melodie mit Wiederholung besteht. Diese ist zuerst tief (also insgesamt über 8 Takte) und danach noch einmal hochoktaviert notiert. Die Hochoktavierung findet bei Tanasijević keine Berücksichtigung, aber zumindest ist die Melodie als eine Verlängerung von 3/4 (a) prinzipiell vertreten. Die Tanzelemente der Figur V jedoch kommen bei ihm nicht vor.

Der größte Unterschied zwischen der Notation der Jankovićs und der tatsächlichen musikalischen Umsetzung findet sich bei der 9/8-Variante. Nicht nur, daß die Aufnahmen der genannten Tanzlehrer jeweils deutlich schneller interpretiert werden als es die Janković-Notation vorgibt, auch die Melodie erscheint stärker ausgestaltet. Vergleicht man die anderen rhythmischen Varianten, decken sich die musikalische Interpretation und die Noten im Großen und Ganzen. Die 9/8-Notation bei Janković weist jedoch in der zweiten Hälfte zahlreiche unterbrechende Pausen auf; es entsteht ein Eindruck, als wären die Melodiebögen nur angerissen und auf das Wesentliche reduziert hingetupft worden. Die Aufnahmen bei Djordjević und Tanasijević überspielen dagegen die Pausen, die 9/8-Melodien wirken hier fließender, wie aus einem Guß.

Das tanzhistorische Dokument 

Da die Schwestern Janković in ihrem Buch für den Kalač viele interessante Details beschreiben, wollen wir den Text unseren Lesern nicht vorenthalten. Insbesondere der Einsatz der Tücher ist hier genau beschrieben.

60. Kalač

Takt: 5/4; 2/4; 4/8 + 5/8; 3/4; 3/4 – Prizren.

Form

Dies ist nun ein Tanz in gemischter Gruppe oder in Paaren. Früher tanzten die Frauen in einem Raum, Männer in einem anderen. Hochzeitsmusik wurde von Männern gespielt, während der Pate sich nicht bei den Frauen einreihte, um mit ihnen zu tanzen.

Beim Kalač halten die Tänzer sich nicht an den Händen, sondern fassen mit der linken Hand die Ecken eines Tuchs, das gefaltet und in der Mitte des Kreises gekreuzt wird, auf dem die Tänzer sich nach rechts bewegen. Dabei wird die rechte Hand in die Seite gestemmt. Die Anzahl der Tücher muß die Hälfte der Anzahl der Tänzer sein, weil jedes von ihnen mit seinen beiden gegenüberliegenden Enden die Möglichkeit gibt, daß zwei Tänzer anfassen. Die Anzahl der Tänzer muß gerade sein. Wenn nicht genug Tücher da sind (wenn mehr Tänzer am Tanz teilnehmen), kann in der Mitte ein großes Tuch ausgebreitet werden, dessen Rand alle Tänzer, so viele da sind, mit der linken Hand fassen.

So verbunden mit gekreuzten Tüchern oder einem großen Tuch, beginnen sie zu tanzen. Bald lösen sie die einzige Verbindung, die sie zusammenhält. Die Frauen nehmen die Tücher in die rechte Hand, mit der sie sanfte rhythmische Bewegungen vor dem Gesicht ausführen, während ihre linke Hand in die Seite gestemmt ist. Dagegen fassen die Männer ihr Tuch mit beiden Händen an den beiden gegenüberliegenden Ecken und wickeln es mit schnellen Bewegungen vor dem Gesicht auf und ab. Bis zum Ende tanzt so jeder im Kreis nach rechts.

Die Melodie hat fünf Varianten (5), von denen vier in Bezug auf den Takt verschieden sind. Der Schritt bleibt im Grunde der gleiche, nur unterscheidet er sich  rhythmisch in bestimmten Figuren aufgrund unterschiedlicher Takte der Melodie. Bei der fünften Variante, die im Hinblick auf den Takt mit der vierten Variante zusammenfällt (3/4), sind die Bewegungen jedoch anders, insofern es eine Figur ist, die auf der Stelle (siehe **) zweimal wiederholt ausgeführt wird, weshalb diese Figur den Namen Čifte (Doppelte) erhalten hat. Der Tanz hat deshalb fünf Figuren, von denen jede einer Melodievariante entspricht. Jede Figur wird mehrmals wiederholt (mindestens 10-mal), bevor zur nächsten übergegangen wird.

Hier sind die Grundschritte dieser Tänze (6):

Der Körper ist stark nach der rechten Seite gedreht.

* Die linke Ferse wird angehoben und abgesenkt; das rechte Bein wird angehoben.

1 Schritt mit dem rechten Fuß nach rechts; das linke Bein wird angehoben.

Die rechte Ferse wird angehoben und abgesenkt, während das linke Bein angehoben wird.

1 Kreuzschritt mit dem linken Fuß nach rechts (vordere Kreuzung).

Die linke Ferse wird angehoben und abgesenkt; das rechte Bein wird angehoben.

1 Schritt mit dem rechten Fuß nach rechts; das linke Bein wird angehoben.

_

Der Körper kehrt in die Grundstellung zurück.

** 1 Schritt mit dem linken Fuß vorwärts.

1 Schritt mit dem rechten Fuß zurück.

Die rechte Ferse wird angehoben und abgesenkt; das linke Bein wird angehoben.

Der linke Fuß schließt zum rechten Fuß, das Gewicht geht auf das linke Bein über.

1 Schritt mit dem rechten Fuß vorwärts.

1 Schritt linken Fuß diagonal rückwärts – direkt hinter dem rechten Bein.

Hinweis

Männer führen die Hebung und Senkung der Ferse als Hüpfer aus. Ihre Haltung ist ein wenig gebeugt – als ob sie schleichen. Statt drei Schritte nach rechts (siehe unten die Form neben dem Stern *) führen die Männer manchmal eine Drehung rechts herum aus, ohne den Grundschritt und den Rhythmus des Tanzes zu ändern. Statt der drei Schritte (*) kann dreimal Hüpfen im Wechsel mit Hocke ausgeführt werden wie folgt:

Hüpfen auf dem linken Fuß auf der Stelle.

1 Schritt mit dem rechten Fuß nach rechts; das Körpergewicht fällt auf beide Füße gleichmäßig; gleichzeitig hocken.

Hüpfen auf dem rechten Fuß auf der Stelle.

1 Kreuzschritt mit dem linken Fuß nach rechts (vordere Kreuzung);

Das Körpergewicht fällt auf beide Füße gleichmäßig; gleichzeitig hocken.

Hüpfen auf dem linken Fuß auf der Stelle.

1 Schritt mit dem rechten Fuß nach rechts; das Körpergewicht fällt auf beide Füße gleichmäßig; gleichzeitig hocken.

Analyse: [Beschreibung der Schrittfiguren unter den verschiedenen Rhythmen]

1. Figur, Takt 5/4: [Beschreibung wie bekannt];

Anm.: Das Loslassen der Tücher erfolgt schon in der 1. Figur während der dritten oder vierten Wiederholung.

2. Figur, Takt 2/4: [Beschreibung wie bekannt]

3. Figur, Takt 4/8+5/8: [Beschreibung wie bekannt]

4. Figur, Takt 3/4: [Beschreibung wie bekannt]

5. Figur, Takt 3/4: [Beschreibung wie bekannt plus Wdh. der T. 3 – 6]

Anm. bei allen Figuren: Die Beziehung zwischen Tanz und Melodie ist asynchron.


(1) Vgl. das Dreitaktmuster der eurasischen Kettentänze bei Michael Hepp: Genese und Genealogie westeurasischer Kettentänze. Dissertation Münster 2015.

(2) Bei V. Tanasijević sind zwei 2/4-Takte ein 4/4-Takt.

(3) Die Abfolge ist bei Janković 5/4 – 2/4 – 9/8 – 3/4 (a) – 3/4 (b); bei Tanasijević 5/4 – 3/4 – 4/4 – 9/8.

(4) L. u. D. Janković: Narodne Igre Bd. 2, Belgrad 1937, S. 113 ff

(5) Original: „пет ставова”stav = wörtlich Haltung, Stellung, Position

(6) Die Autorinnen verwenden die Begriffe igra – Tanz, stav – Variante und figura – Figur abwechselnd synonym für dieselbe Bedeutung.