Musik und Politik

Über die „Beständigkeit“ von Folkloretraditionen • Ein Lektürebericht

Folklore im Wandel – 1

In seinem Buch „Music in Bulgaria – Experiencing Music, Expressing Culture“ (1) beschreibt Timothy Rice in Kapitel 5 „Music and Politics“ ab S. 56 die Entwicklung der traditionellen Musik unter dem Einfluß sich wandelnder politischer Rahmenbedingungen am Beispiel Bulgariens in der zweiten Hälfte des 20. Jh..

Das Originalkapitel ist hier zu sehen:
http://fdslive.oup.com/www.oup.com/academic/pdf/13/9780195141481_chapter1.pdf

Ein Auftritt eines professionellen Folkloreensembles

Im Jahre 1988 besuchte der Autor zusammen mit dem bekannten Musiker Ivan Varimezov und dessen Frau einen Auftritt des Ensembles Pazardžik, eines professionellen Folkloreensembles, in Mirjanci, 5 km SO v. Pazardžik. Das Publikum war die örtliche Dorfbevölkerung. Das Ensemble trat in stilisierten Kopien der Dorftrachten aus der Zeit vor dem 2.WK auf. Mikrophone, Verstärker, Lautsprecher und Staatsflaggen ergänzten die Szene. Der Chor sang ein Arrangement eines traditionellen a-cappella-Liedes, gekennzeichnet v.a. durch Harmonien der europäischen klassischen Musik anstelle des traditionellen Solo-, Unisono- oder polyphonen Gesangs aus Thrakien, den Rhodopen, Šopluk und Pirin; die dreistimmige Homophonie ist der traditionellen Musikpraxis der Region fremd, der Klang der Stimmen dagegen echt bulgarisch.
Das Instrumentalensemble bestand aus 1 Kaval, 1 Gajda, 3 Gâdulkas, 1 Baßgâdulka, 2 Tamburas, 1 Tâpan – anstelle der traditionellen 3 bis 4 Instrumente der Vorkriegszeit. Sie spielten u.a. eine Suite – eine neue Art der Darbietung anstelle der früher einzeln, oft auf Verlangen der Tänzer, und i.d.R. viel länger gespielten Stücke. Die Suite bietet schnellere Abwechslung, um die Aufmerksamkeit eines passiven Publikums zu halten. Auffällig waren ferner die komplexeren Arrangements im Vergleich zur schlichteren traditionellen Musik. Das Tanzensemble bot anstelle des trad. offenen Kreises Choreographien, die auf das Publikum orientiert sind, das dem Ensemble gegenüber steht. Streng getrennt stehen hier die professionellen Aktiven, dort die Passiven, Front zu Front; die Dorfpraxis findet dagegen in konzentrischer Anordnung statt, der Tanz entwickelt sich im Kreis, darum herum die Nichttänzer; es gibt keine grundsätzliche Trennung zwischen beiden, Rollenwechsel sind möglich, alle können aktiv teilnehmen.

Was früher eine Freizeitbeschäftigung war, sowohl für Musiker und Sänger als auch für Tänzer, ist jetzt ein Beruf für besonders Begabte mit spezialisierter Ausbildung; hinzu kommt ein neuer Beruf, der zuvor nicht gebraucht wurde: der des Choreographen. An die Stelle der früheren Selbstverwirklichung der Dorfgemeinschaft trat – wenn auch partiell – eine Veranstaltung der Kommunistischen Partei und ihrer Kulturfunktionäre.

Modernisierung und Ideologie

Ab 1944 etablierte sich die Kommunistische Partei und baute ihre Macht auf allen Ebenen des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens auf. Musik und Tanz waren vorher eng mit dem Dorfleben verbunden und an kirchliche und vorchristliche rituelle Feste geknüpft. Mit der Eliminierung kirchlicher Institutionen und „abergläubischer“ Praxis verschwanden Anlässe zum Musizieren und Tanzen; mit dem Aufbau von Bildungseinrichtungen und Industriebetrieben wanderten junge Menschen nach und nach in die Städte ab, verloren damit den Kontakt zu ihrer heimischen Musiktradition und lernten ihre Lieder und Tänze nicht mehr.

In das Vakuum trat nun die KP mit neuen Institutionen und Konzepten; dabei war die Dorfkultur als Grundelement des Arbeiter- und Bauernstaates nützlich, um die neue Gesellschaft zu symbolisieren, mußte dafür aber entsprechend an den Ideen des Kommunismus neu ausgerichtet und umgestaltet werden; die Folklore rückte in den Fokus des Interesses der Partei. Sie eignete sich zur Darstellung der kommunistischen Verheißung einer strahlenden, glücklichen, gesunden und fortschrittlichen Zukunft.

Ebenso wurden alle anderen Bereiche künstlerischer Aktivitäten gefördert, aber auch ausgerichtet: Symphonieorchester, Opernhäuser, Ballettkompanien, Kunstakademien enstanden neu, dazu Großveranstaltungen wie Festivals usw..

Im Bereich der Musik ist in der Nachkriegszeit eine bemerkenswerte Entwicklung zu beobachten: Sowohl die herkömmliche klassische als auch die traditionelle Volksmusik waren durch widersprüchliche Konnotationen gekennzeichnet: die Klassik einerseits als Höhepunkt kultureller Entwicklung, andereseits als Symbol der verhaßten Aristokratie und der Bourgeoisie; die Folklore war ein Symbol der nationalen Selbstbehauptung, erinnerte zugleich aber an Armut und Ausbeutung der Landbevölkerung. Dieses Dilemma wurde durch eine gegenseitige Durchdringung aufgelöst, indem neue klassische Kompositionen Folklorethemen aufgriffen und die Volksmusik mithilfe der Methoden der klassischen Musik arrangiert und „verbessert“ wurde. Die Mittel dazu waren in dem oben beschriebenen Auftritt des Ensembles Pazardžik zu beobachten: Akkordbegleitung und Gegenstimmen zu ehemals unbegleiteten Melodien, Chöre anstelle von Solisten oder Duos, Orchester statt Solisten oder kleinen Gruppen, Verkleidung in Kostümen und die Inszenierung der Auftritte mit scharfer Trennung zwischen Akteuren und passivem Publikum, dazu der Einsatz von Tonanlagen. Hinzu kommt die Ausbildung der Musiker in Notenschrift, Musiktheorie und Komposition mit dem Ziel eines Vollzeitberufs.

Neue Institutionen für die Neue Volksmusik

Im Bereich Tanz ist hier an erster Stelle die Gründung des „Staatlichen Ensembles für Volkslied und Tanz“ (Държавен Ансамбъл за Народни Песни и Танци) durch den bis dahin klassischen Komponisten Filip Kutev zu nennen. Um möglichst nahe an die dörflichen Vorbilder heranzukommen, holte Kutev die besten Sänger, Musiker und Tänzer aus den Dörfern und beschaffte das choreographische Fachwissen aus der Sowjetunion. Sein Ensemble, das den urprünglichen Klang bewahrte, aber in ein kultiviertes, städtisches „Gewand“ kleidete, erwarb einen hervorragenden Ruf im In- und Ausland.

In den größeren Städten enstanden weitere professionelle Ensembles; für ihre Ausbildung wurde ein spezialisiertes Gymnasium und später auch eine pädagogische Hochschule eingerichtet, wo die Leiter dieser Ensembles sowie der vielen ländlichen Amateurensembles auf ihre Aufgaben als Choreographen vorbereitet wurden.
Die Akademie Plovdiv bestand ab 1972 als eigenständiges musikpädagogisches Institut, zunächst für Volksmusik, ab 1975 auch für Tanz und ab 1995 war sie offziell eine „Akademie für Musik- und Tanzkunst“. (2)

Kultivierte Volksmusik

Am Beispiel des berühmten Liedes „Polegnala e Todora“ wird deutlich, was Filip Kutev und seine Frau Maria Kuteva unter „kultivierter Volksmusik“ verstanden. Die originale Melodie besteht aus vier 11/8-Takten, alles übrige wurde hinzugefügt. Kutev erfand eine zweite Melodie, um das Lied um vier Takte zu verlängern, im selben Rhythmus und ähnlicher Tonfolge. Maria Kuteva schrieb einen neuen Text in Anlehnung an traditionelle Lieder. Filip Kutev komponierte einen begleitenden dreistimmigen Chorsatz für die erste und einen Quartettsatz für die zweite Melodie; der erste Teil ist als Wechselgesang arrangiert, entsprechend der antiphonischen Tradition bulgarischer Volkslieder. Die Begleitung im selben Rhythmus wie die Melodie beruht auf den grundlegenden Harmonien der europäischen klassischen Musik. Während der 45 kommunistischen Jahre war dies die vorherrschende Art, „Volksmusik“ im Radio, in Konzerten und Schallplattenaufnahmen zu präsentieren; viele Komponisten folgten diesem Muster.

Eine neue Rolle für die Hochzeitsmusik

Gleichermaßen interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Musik, die auf Hochzeiten gespielt wurde („wedding music“). Freier als die kulturpolitisch kontrollierten Ensembles konnten die Hochzeitsmusiker zunächst ihren Bestand an Instrumenten modernisieren; nach dem Akkordeon hielten Klarinette, Trompete und andere Blechblasinstrumente, Geige, Saxophon und schließlich elektrisch verstärkte E-Gitarren und -Bässe sowie Synthesizer Einzug in diese „graue“ Zone der bulgarischen Volksmusik. Da die kommunistische Kommandowirtschaft eine Mangelwirtschaft war, entstanden mangels Warenangeboten beträchtliche Bargeldbestände, die für Feste, insbesondere Hochzeiten, eingesetzt werden konnten. Man konnte sich die besten und berühmtesten Musiker leisten. Manche wurden in dieser erstarkenden Privatwirtschaft zu Stars mit internationalem Ruhm, wie z.B. der Klarinettist Ivo Papazov.

Abseits der staatlichen Kontrolle konnte sich in diesem Sektor aber auch eine populärere Ästhetik durchsetzen. Tonanlagen mit größerer Leistung und mehr technischen Raffinessen trieben den Sound in die Höhe, die Spieltechnik erreichte schwindelerregende Höhen, das Tempo und die Dichte der Musik nahmen zu, Improvisationen steigerten sich in ihrer Komplexität. Durch die traditionell größere Anzahl an Roma unter den Hochzeitsmusikern wurden mehr und mehr Elemente aus der Zigeunermusik und aus orientalischen Musiktraditionen eingeführt; Hits aus Nachbarländern – Serbien, Türkei, Griechenland und Rumänien – hielten Einzug in das populäre Repertoire.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre beschloß die bulgarische Regierung unter Živkov, gegen die anscheinend überproportional wachsenden Minderheiten der Muslime, insbesondere der Türken, und der Roma vorzugehen, um etwa aufkommende Ansprüche abzuwehren. Türkische Namen mußten bulgarisiert werden, alle Formen „orientalischer“ kultureller Äußerungen (einschließlich Pluderhosen der Frauen) wurden verboten. Viele charakteristische Elemente der Hochzeitsmusik dieser Zeit galten nunmehr als „staatsfeindlich“ – einerseits, weil sie sich der staatlichen Kontrolle entzog, aber mehr noch weil sie in ihrer wilden Freizügigkeit zum Symbol für die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung geworden war. Die Hochzeitsmusik befreite die Menschen in gewissem Maße von dem Druck der repressiven und restriktiven Lebensumstände.

Während die etablierte Volksmusik mit ihren engen Vorgaben einschließlich fehlender Improvisation und ihrer Einbettung in staatliche Kulturinstitutionen ganz offensichtlich den Staat repräsentierte, stand die Hochzeitsmusik mit ihrer auf das Publikum reagierenden Flexibilität, ihren modernen Instrumenten, ihren vielfarbigen Klängen und mächtigen Verstärkern für den Wunsch nach politischer Freiheit – und damit letztlich für staatsfeindliche Bestrebungen.

Auf die Perspektive der Musiker geht Timothy Rice in einem späteren Kapitel ab S. 205 ein:

Bereits in den 50er Jahren kursierte unter Musikern der Spruch: „Ein Wein, der durch Vinprom [die staatliche Weinkellerei] und ein Volkslied, das durch die Hände von Filip Kutev gegangen ist – zum Teufel damit!“ Die Produkte staatlicher Einrichtungen hatten einen schlechten Ruf. Die Institutionen waren mit dem hehren Ziel angetreten alles bessser zu machen, was sie aber produzierten, war zu oft schäbig oder entsprach nicht den Bedürfnissen der Menschen. Nicht nur die künstlichen Arrangements, auch die verkürzten Liedtexte ärgerten sie. Todora, Ivan Varimezovs Frau, eine Sängerin, wird dazu zitiert: „Sie schneiden es einfach ab und der interessanteste Teil des Liedes kommt nicht mehr zur Sprache, denn er kommt erst viel später. Sie lassen nur drei oder vier Strophen zu und du verstehst überhaupt nicht, worum es geht.“ Aus der Sicht der Dorfbevölkerung war die Kürzung der Lieder für die Zwecke der Musikindustrie einer der schwerwiegendsten Eingriffe in die Musiktradition. Bei einer Sedjanka oder beim Tanz konnte ein Lied „kein Ende haben“, wie Todora einmal sagte; Musikproduzenten schienen jedoch zu glauben, daß ihre Zuhörer ständige musikalische Abwechslung wollten und an den Texten nicht interessiert waren. Das mochte für das neue städtische Publikum gelten [und gilt gewiß auch für den größten Teil unserer hiesigen Folkloretänzer … – Anm. d. Red.], die Dorfbewohner hingegen wurden gerade durch das Fehlen von Inhalten gelangweilt, von denen sie wußten, daß sie einst vorhanden waren. Auch hier gewannen wie so oft die ästhetischen Bedürfnisse der Gebildeten und ihre Auffassung vom Wert der Volkslieder die Oberhand gegenüber den Werten der Dorfbevölkerung, aus deren Alltagsleben und Festkultur diese Lieder ursprünglich stammten.

Das gleiche galt für die Arrangements; ein Musiker zitierte seine Zuhörer: „Sie mögen, wie ich spiele, aber nicht die ganzen Instrumente, die um mich herum brüllen.“ Ein anderer Musikerspruch lautete: „Wenn du ein Volkslied verderben willst, gib es Kutev.“

Auf die Frage, warum Türken und Araber keine Arrangements einsetzen, die Bulgaren dagegen schon, soll Nikolai Kaufman, ein namhafter Sammler von Volksmusik und Buchautor geantwortet haben: „Wir sind weiter entwickelt. Wir haben das von den Franzosen gelernt.“ Neben der Irritation der traditionellen Volkmusiker durch die oft überladenen Arrangements klingt in Kaufmans Bemerkung aber auch der Gedanke an, daß Bulgarien sich durch sie dem Fortschritt und der europäischen Kultur zu- und von der ländlich geprägten Vergangenheit unter der türkischen Herrschaft abgewandt hatte.

(1) Oxford University Press, New York – Oxford 2004, ISBN 978-0-19-514148-1
(2) Quelle: http://artacademyplovdiv.com > АМТИИ през годините