Wo sind unsere Reigen geblieben?

In Deutschland ist der Reigen wohl in der Literatur und in der Musik anzutreffen, sucht man ihn aber unter den deutschen Volkstänzen, ist er höchstens noch in Spuren zu finden. Es muß ihn als Tanz aber einst gegeben haben, ursprünglich unter der Bezeichnung „Reihen”, sonst wäre er nicht in den erwähnten Quellen belegt. Wo ist unser Reigen geblieben?

Überall in Südosteuropa werden vorwiegend Reigen getanzt; sie heißen dort Kolo, Oro, Horo, Hora, sind aber alle, genau wie der Reigen, der Typ Kettentanz, bei dem alle Tänzer beiderlei Geschlechts bei der Hand gefaßt synchron tanzen und – ursprünglich – dazu singen (vgl. der antike griechische „Chor”). Auch in einigen Reliktarealen Westeuropas findet man diesen Typ, aber in Deutschland gibt es heute keinen Reigen mehr, stattdessen Paartänze und vereinzelt Kettentanz-Relikte. Früher waren Reigentänze auch in Deutschland verbreitet – bis wann, darauf kommen wir noch zu sprechen. So schreibt Michel Hepp in seiner Arbeit über die „Genese und Genealogie westeurasischer Kettentänze” (1) S. 92:

„Alle Autoren, die sich mit Volkstänzen und deren Geschichte beschäftigen, sind sich trotzdem einig, dass die Kettenreigen die vorherrschende Tanzform des Mittelalters darstellten und dass diese Tanzform in ganz Europa verbreitet und in allen Schichten der mittelalterlichen Tanzkultur zu finden war”

– und nicht nur der mittelalterlichen. Seine Entstehung reicht zurück bis in die Jungsteinzeit; der Kettenreigen darf also mit Recht als jahrtausendealte Haupttanzform Europas bezeichnet werden. Daneben existierten schon sehr früh freie Paartänze, bei denen ein Mann und eine Frau unverbunden, aber aufeinander bezogen tanzen; die ältesten bildlichen Belege, die Tänzer im freien Paartanz darstellen, stammen aus dem 5. Jahrtausend v. C. (ebd. S. 186)

Geschlossene Paartänze – Mann und Frau in Beidhandfassung bzw. umarmt – sind ab dem 13. Jh. belegt und haben sich vom süddeutsch-österreichischen Voralpenraum aus nach Norden verbreitet. Ab dem 11. Jh. tauchen beim europäischen Adel offene Paartänze (Fassung an einer Hand) auf. (ebd. S. 194 f, 204) (2)

Was dann folgte, beschreibt Hepp als Verdrängung der Reigentänze durch Paartänze. Dabei wirkte ihm zufolge als motivierender Mechanismus eine Mode und als treibende Kraft ein gesellschaftlicher Wandel: die Auflösung dörflicher Strukturen, an die die Reigentänze gebunden waren.

Wesentlich wirksamer war allerdings ein politischer Prozeß, der sich in Hepps Belegen für die Ausbreitung der geschlossenen Paartänze vom Voralpenraum nach Norden, den Tanzverboten, nur andeutet. Es handelt sich hier in erster Linie um die Zeit nach den Bauernkriegen, d.h. nach 1526. Franz Joseph Krafeld (3) beschreibt diese Zeit als einen Stabilisierungsprozeß, der die Festigung der weltlichen und der kirchlichen Macht zum Ziel hatte und zu diesem Zweck die unteren Schichten mundtot machte. Dies geschah unter anderem dadurch, daß diese ihrer Traditionen sowie ihrer Musik- und Tanzkultur beraubt wurden:

„In dieser Zeit nach den Bauernkriegen und insbesondere nach der Stabilisierung der politischen Verhältnisse seit 1555 [Augsburger Religionsfrieden] erfolgte […] eine ungeheure Häufung von Verboten gegen das Singen und Tanzen.” (ebd. S. 38)

Dies spiegelt sich bei M. Hepp darin wider, daß die Belege für die Ausbreitung von Paartänzen nach 1526 überwiegend Tanzverbote und nur in weitaus geringerer Zahl andere Belege sind. (Hepp S. 195)

Daß diese Unterdrückungsmaßnahmen sich sowohl gegen das Tanzen als auch gegen die dazugehörige Musik und gegen Lieder, letztlich gegen das gesamte dörfliche Brauchtum richtete, hatte völlig einleuchtende Gründe: Das Tanzen bringt das Blut und die Gefühle „in Wallung”, stärkt das Selbstbewußtsein und den Mut; die Lieder zu den Reigentänzen transportierten oft Inhalte, die sich gegen die Herrschenden richteten oder der erotischen oder sonstigen Belustigung dienten; die Musikanten trugen dazu bei und standen pauschal unter dem Verdacht der Aufrührerschaft. Zur Bemäntelung der politischen Absichten hinter diesen Maßnahmen bezichtigte man das traditionelle Singen und Tanzen der „Sittenlosigkeit”, „Ungebührlichkeit”, „Unzüchtigkeit” usw. Krafeld berichtet von einem Fall, in dem „mehrere Leute nur deshalb gefoltert und hingerichtet wurden, weil bei einem von ihnen ein entsprechender Liedtext gefunden worden war.” (Krafeld S. 38) Wenn dies auch nur als ein extremer Auswuchs zu gelten hat, zeigt der Fall doch die Gnadenlosigkeit, mit der Lied und Tanz der Bauern und der niederen Stände in den Städten unterdrückt und verfolgt wurden.

„Man kann in dieser Phase im wahrsten Sinne des Wortes davon sprechen, daß in der Mitte des 16. Jh. das Volk – und damit ein Großteil der Kultur – brutal zum Schweigen verurteilt wurde.” (ebd. S. 39)

Für den althergebrachten Reigentanz hatte das verheerende Konsequenzen:

[Auf diese Weise] wurde der seit jeher bestehende Zusammenhang von Tanz, Gesang und Spiel zerstört. Damit verschwanden die alten Gesänge, genauso aber auch die alten Tanzformen, die Kreis-, Ketten- und Reigentänze, die aus diesem Zusammenhang gelebt hatten.

[…] muß man differenzierend feststellen, daß in der Mitte des 16. Jh. der von bäuerlichen Traditionen gekennzeichnete Volkstanz abgelöst wurde durch einen Volkstanz, dessen Entwicklung fortan das Bürgertum prägte (ebd. S. 41, Hervorhebung d. Verf.)

Auch wenn diese Ablösung der traditionellen Formen ein langsamer Prozeß war, im Laufe dessen die alte Tanzpraxis noch hier und da zum Vorschein kam, sorgten doch die kriegerischen Wirren bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges dafür, daß der Volkstanz ca. ein Jahrhundert lang unter massiven Beeinträchtigungen zu leiden hatte und sich erst ab der Mitte des 17. Jh. langsam wieder erholte, nun aber unter dem Einfluß der oberen Schichten, d.h. ihrer aus der höfischen Tradition kommenden Paartänze.

Geht man also von einer schlichten „modischen Verdrängung” des Reigens durch den Paartanz aus, macht man es sich u. E. zu leicht. Eine Bevorzugung reicht nicht, um das fast völlige Verschwinden zu erklären. (Letzte Reste wurden 1952 „wiederentdeckt”.) (4) Wenn allein die Mode den Paartänzen zur Vorherrschaft verholfen hätte, wäre eine Koexistenz von Paartänzen und Reigen in der Folge anzunehmen. Allein die systematische und politisch motivierte Unterdrückung erklärt das vollständige Verschwinden des Reigens. Siehe dazu auch Krafelds erhellende Ausführungen über die dazugehörigen (subversiven) Lieder. (ebd. S. 38)

Das Fortbestehen des Reigentanzes in der Form des Kinderreigens zeigt in dieselbe Richtung: als Kinderkram, seiner politischen Zähne beraubt, konnte der Reigen geduldet werden.

Wo sind also unsere Reigen geblieben? Sie sind schlicht und einfach verboten worden, weil sie die Inhaber der politischen Macht nervös machten, wie es so oft in der europäischen (und außereuropäischen) Geschichte geschah – bis in unsere heutigen Tage.


(1) Münster 2015, im Internet: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-78239511881

(2) In Bulgarien fehlen geschlossene und offene Paartänze völlig. Die archaischen Tanzformen des Kettentanzes und des freien Paartanzes sind dort unter der osmanischen Herrschaft unvermischt erhalten geblieben; abgekapselt vom Rest Europas und seiner kulturellen Entwicklung blieb Bulgarien seit dem Hochmittelalter wie in einer anderen Welt.

(3) Wir tanzen nicht nach eurer Pfeife – Zur Sozialgeschichte von Volkstanz und Volkstanzpflege in Deutschland, Eres Edition Bremen 1985, ISBN 3 87204 017 0, S. 34 ff

(4) Haegele, Peter: Der Reihen und seine Verwandtschaft. In: Tanz und Tanzmusik in Überlieferung und Gegenwart. Hrsg. Marianne Bröcker. Bericht über die 12. Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. Bamberg 1992. S. 73 – 82. Er zitiert: „Als Alfred Quellmalz 1952 die Wiederentdeckung des Reihens mitteilte, gaben die letzten beiden Gewährspersonen, zwei alte, über achtzigjährige Frauen an, sie hätten zum Reihen alle möglichen Lieder gesungen [Bezug auf Quellmalz‘ Bericht in: Schwäbische Heimat, Jg. 1954].”

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