Căluș – ein Ritual im Niedergang

Unter dem Namen „Căluș” (und Abwandlungen davon) haben wir bei einer Reihe von Tanzlehrern rumänische Tänze lernen können (1), die, so hören wir, irgendwie mit einem Ritual zu tun haben. Es sind meist schnelle Männertänze, die ein hohes Maß an Körperbeherrschung, Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit erfordern.  Es ist sogar von „Virtuosität”, ja „Akrobatik” die Rede – zumindest wenn von den Călușari, den Teilnehmern des Rituals, berichtet wird. Wir westliche Folkloretänzer sind vielleicht weniger damit gemeint. Die rumänische Wikipedia bezeichnet den Căluș als „repräsentativsten Brauch, als beeindruckendstes Schauspiel und als eine der beeindruckendsten (sic) und wertvollsten Schöpfungen des rumänischen Volkes.”

Die Aura des Außergewöhnlichen steigert sich ins Geheimnisvolle, sobald die Nachricht ins Blickfeld rückt, daß die Călușari sich mittels eines Eides und verschiedener Symbolhandlungen in einem Geheimbund zusammenschließen, der von jedem Einzelnen die bedingungslose Befolgung der Regeln fordert. (Dies galt zumindest noch zu der Zeit, als das Ritual in seiner ursprünglichen Form und in seinem sozialen und spirituellen Kontext praktiziert wurde.) 

Obendrein wurde das Căluș-Ritual 2008 in das Kulturerbeverzeichnis der UNESCO aufgenommen, freilich im grammatischen Tempus der Vergangenheit, was seinen spirituellen Kern betrifft, während die gegenwärtige Praxis nur noch der „Zurschaustellung herausragender Könnerschaft in Tanz und Musik” dient. (2)

Dieser wichtigen Unterscheidung zwischen „früher” und „heute” folgt auch die rumänische Wikipedia in ihrem Eintrag zum Călușul: „Der moderne Călușul ist ein spektakulärer Tanz von hoher Virtuosität und choreografischer Meisterschaft.” Wohlgemerkt: der „moderne” Călușul. (3)

Wenn wir im Folgenden bei der Beschreibung des Rituals dennoch im Präsens bleiben, obwohl diese Dinge längst der Vergangenheit angehören, wollen wir damit nichts behaupten. 

Da die einschlägigen Informationsquellen (4) entweder zu summarisch (Wikipedia) oder dem Leser bzw. der Leserin (sofern diese Unterscheidung eine Rolle spielen sollte) vermutlich nicht zur Hand sind (die Bücher von Giurchescu und Loneux), fassen wir hier die wesentlichen Elemente des Căluș-Rituals zusammen: 

Bedeutung des Namens „Căluș

Über die Bedeutung und die etymologische Herkunft des Wortes gibt es folgende Theorien: 
1. Das Wort „căluș” geht zurück auf rum. „cal” = Pferd.
2. Es leitet sich von lat. collusium für „geheime Verabredung” ab.
3. Mit „căluș” wird in Rumänien der Knebel bezeichnet. (5)

Tatsächlich spricht einiges für jede dieser Theorien. Das Pferd spielt in Form einer Maskerade beim Căluș eine rituelle Rolle, jedoch nicht generell und nur sehr am Rande; jedenfalls in jüngerer Zeit – als Symboltier der Sonne kann es durchaus in der älteren Vergangenheit eine zentralere Stellung im Gesundheits- und Fruchtbarkeitsritual eingenommen haben. Der geheime Bund der Călușari mit seinen vielfältigen Begleiterscheinungen spielt eine ganz zentrale Rolle. Und der Knebel ist ein Requisit des Mutul und dient dazu, ihm am Sprechen zu hindern und damit seine Rolle fehlerfrei zu spielen. Das sind freilich nichts als Indizien und keine sprachwissenschaftlichen Argumente. 

Spirituelle Grundlagen

Anca Giurchescu geht in ihrem Buch „Romanian Traditional Dance” (4) dankenswerterweise auf die spirituellen Vorstellungen ein, die dem ganzen Căluș-Ritual zugrunde liegen. Sie erst erschließen uns das Verständnis für die sonst nur bizarr, bestenfalls „interessant” erscheinenden Tabus, Regeln und Handlungen. Ihnen allen liegt die Idee von weiblichen Naturgeistern zugrunde, die meist vage „iele” (sie) genannt werden, rusalii oder „mândrele” (Schöne, Geliebte, Verehrte) oder „vântoasele” (Windsbräute). (6)

So nebelhaft wie die Bezeichnung „iele” sind auch ihre Erscheinungsformen und Eigenschaften, zugleich verführerisch und gefährlich, Glück oder Verderben bringend, ähnlich den westeuropäischen Elfen. Mit diesen haben sie auch ihre bevorzugten Aufenthaltsorte gemein: Lichtungen, Flußufer, Moore, Wälder. Der Sinn des Geheimbundes der Călușari erschöpft sich nicht in einem Selbstzweck, wie rumänische Quellen vor 1990 den Anschein erwecken. Die Aufgabe der Călușari besteht vielmehr darin, zwischen den iele und den Menschen zu vermitteln, Schaden abzuwenden und ihre wohltuende Macht nutzbar zu machen. Zu diesem Zweck müssen sie sich unter die Macht der iele begeben. Im Zustand der Besessenheit verfügen sie dann über die übernatürlichen Kräfte, die sie zum Wohl der Menschen einsetzen und sie vor Schaden durch die iele schützen. Sie selbst setzen sich dabei allerdings der Gefahr aus, zum Opfer der Bösartigkeit der iele zu werden. Hierzu schreibt A. Giurchescu: 

„Es ist gerade diese höchst prekäre und zwiespältige Lage, die von den Călușari verlangt, die strengen Verhaltensregeln, die im Căluș-Ritual vorgeschrieben sind, zu respektieren und auszuführen. Um diese Riten zu praktizieren, müssen die Călușari mit außerordentlichen psycho-physischen Eigenschaften ausgestattet sein. Allein der Căluș-Tanz erfordert ein sehr hohes Maß an Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer – Qualitäten, die über eine beträchtliche Zeitspanne durch anstrengendes Training, Übung und Hingabe entwickelt werden. Die erstklassige moralische und körperliche Verfassung der Männer wird durch Regeln und Normen aufrechterhalten, die alle Arten von Exzessen verbieten und die die Grundlage der Organisation der Mannschaft bildet. Um ein Mitglied dieser geschlossenen rituellen Gesellschaft zu werden, muß die Gruppe der Eingeweihten einen Eid leisten, der sie zur Einhaltung der vielfältigen Verhaltensvorschriften verpflichtet.” (7)

Personen, Rollen, Figuren, Requisiten 

Eine Căluș-Mannschaft besteht aus einer ungeraden Anzahl (7, 9, 11) Männer gleich welchen Standes oder Alters – wobei letzterem durch die körperlichen Anforderungen natürliche Grenzen gesetzt sind. Daher sprechen manche Quellen von „nur jungen Männern”. Sie werden von einem Führer (vătaf) kommandiert, dem zweitrangige Führer auf dem zweiten Platz der Reihe und an deren Ende zur Seite gestellt sind. Ferner gibt es den „Stummen” (mutul), der mit Gesten und Pantomimen die Zeremonie begleitet und zur Belustigung beiträgt – ein entspannendes Gegengewicht zum Ernst des Rituals. Hinzu kommen ein paar Musikanten mit Geige, Cobză, Țambal und auch Akkordeon. 

Die Călușari tragen ein weißes langes Hemd, das über der Hose getragen wird, eine weiße Hose und weiße Strümpfe; alles ist reich mit bunter Stickerei verziert. Als Gürtel und als Schärpe über der Brust tragen sie ein buntes gewebtes breites Band, an den Füßen Opinci mit klirrenden Sporen und Glöckchen an den Knien; bestimmte Tänze der Călușari leben in starkem Maße von ihrem rhythmischen Ausdruck. Der Hut ist reich und bunt geschmückt mit Perlen und Bändern. Alle haben Stöcke, die beim Tanz und bei Ritualen zum Einsatz kommen. Der Mutul trägt eine häßliche Maske, einen roten Stock, lumpige Kleider mit einem Frauenrock, unter dem ein knallroter hölzerner Phallus verborgen ist, der bei seinen derben Späßen zum Einsatz kommt. (8)

Ablauf

Das sieben- bis neuntägige Ritual beginnt mit dem Aufstellen der Fahne und dem Schwur. Dafür begeben die Călușari sich am Pfingstsamstagabend an die „Grenze”, d.h. an eine geheime, versteckte Stelle in den Außenbereichen der Gemarkung, fernab vom Dorf, wo man die iele vermutet. Die rituellen Handlungen dieses Ereignisses werden schweigend vollzogen, schweißen die Mannschaft zusammen und heben die Männer aus ihrem Alltagsleben auf eine geheiligte Ebene, die ihnen magische Kräfte verleiht. Sie schwören gemeinsam einen Eid auf ihre Fahne, der sie ursprünglich für drei bis neun Jahre, heute nur ein Jahr, zur Teilnahme am Căluș und zum Gehorsam gegenüber den Regeln und dem Kommando des vătafs verpflichtet. Die Fahne ist ein Gebinde aus einem Leinenhandtuch, Wermut, Knoblauch und grünen Weizenstengeln, das an einer langen Stange befestigt ist. Sie steht für den unverbrüchlichen Zusammenhalt der Mannschaft und ihre übernatürlichen Kräfte, die mittels Gesten, szenischem Spiel, Reden, Musik, Tanz und symbolischen Handlungen ausgeübt werden. Den Abschluß dieser Zeremonie bilden eine Reihe von Tänzen um die aufgerichtete Fahne. 

Am Pfingstsonntag beginnt die Călușari-Truppe von Hof zu Hof zu ziehen; dies setzen sie in den nächsten Tagen fort. Wo sie hereingebeten werden, führen sie auf dem Hof eine Reihe von Tänzen, Szenen, Reden und magischen Handlungen aus; der vătaf zeichnet mit seinem Schwert einen magischen Kreis, der den Eingeweihten vorbehalten ist und innerhalb dessen Gegenstände mit Heilkräften aufgeladen werden. Die Tänze, die die Călușari aufführen, unterscheiden sich in einen Typ ruhigerer Schreittänze (plimbare) im Gänsemarsch in der Reihe hintereinander und am Platz ausgeführten Schritten, Stampfern, Schlägen, Sprüngen in ansteigender rhythmischer Komplexität in lebhaftem Tempo (mișcari). Beide Tanztypen wechseln sich ab. 

Zum Abschluß tanzen alle Anwesenden gemeinsam eine Hora. Diese dient ebenso wie alle übrigen Handlungen dazu, dem Hof und seinen Bewohnern Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlstand zu bringen. Ein heute nur noch in rudimentären Resten erhaltener Teil des Rituals besteht in der symbolischen „Heilung” einer auf dem Boden liegenden Person mittels Gesten, Tanz um sie herum und Sprüngen über sie hinweg. Als Zwischenspiel tritt der Mutul in Aktion, wählt evtl. einen Assistenten und führt mit ihm derbe Possen auf, die sich allgemein großer Beliebtheit erfreuen. Auch seine obszönen Gesten werden der Fruchtbarkeit förderlich erachtet. Ein bedeutungsvoller, starker Teil des Rituals besteht im symbolischen „Sterben” (bzw. „Tötung”) eines Călușars und seiner „Wiederbelebung” und „Auferstehung” – ein weitverbreiteter und in vielen Varianten auch bei anderen Festen praktizierter Fruchtbarkeitsritus. 

Die dritte und abschließende Episode des Căluș-Rituals ist die Beerdigung der Fahne. Dort, wo die Fahne eine Woche zuvor aufgerichtet wurde, vollziehen die Călușari eine ähnliche Reihe von Handlungen, Gesten und Tänzen, legen die Fahne nieder und begraben sie. Damit sind alle von ihrem Eid entbunden, schütteln sich die Hände und gehen nach Hause zurück in ihr Alltagsleben. 

Entritualisierung

„At the present time the tendency is to deritualize Căluș by changing it into an entertaining show”, schreibt Anca Giurchescu: „Gegenwärtig geht die Tendenz dahin, den Căluș zu entritualisieren”. Schlimmer noch: bereits seit Beginn des sozialistischen Regimes tat dieses alles dafür, sämtliche Bereiche der traditionellen Kultur in allen Ländern ihres Einflußbereichs ihrer rituellen Bedeutung zu berauben. Der Sozialismus glaubte sich im Besitz einer „wissenschaftlichen” und daher allgemein und allein gültigen Welterklärung zu sein – da war für Mythen, jedenfalls traditionelle, und spirituelle Vorstellungen kein Platz. 

Die Folgen für ein „Kulturerbe” wie den Căluș waren in mehreren Hinsichten gravierend. An die Stelle einer Gemeinde, in der alle mit verschiedenen Rollen am Geschehen beteiligt und betroffen waren, trat nun die Zweiteilung in Zuschauer und Darbietende. Auf der Seite der Zuschauer trat die Auffassung des Geschehens als Ritual zurück gegenüber dem Erlebniswert, wobei auch die Vorführung einer ehrwürdigen Tradition immer stärker durch ihren Unterhaltungscharakter bestimmt wurde. Auf der Gegenseite kam es für die Akteure zunehmend und am Ende ausschließlich, auf die künstlerischen (artistischen) Qualitäten ihrer Darbietung an. Dies wirkte sich im Weiteren auf alle Gestaltungselemente, von den Trachten über die Musik bis zu den Choreographien und ihr Darbietungsprogramm aus. Bestimmend waren nun die Erfordernisse einer Aufführung im Rahmen des sozialistischen Kulturbetriebs. (9)

Es ist bezeichnend, daß rumänische Quellen bis in die neunziger Jahre den spirituellen Anteil des Căluș-Rituals verschwiegen und erst eine Publikation, die nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems und außerhalb Rumäniens entstand, das o.g. Buch von Anca Giurchescu und Sunni Bloland, den Hintergrund erhellte und verständlich werden ließ. 

____________________________________________________________________

(1)  
Eugenia Judescu-Popetz 1971: „Tarapanaua din Caluş”
Mihai & Alexandru David 1977: „Floricica din Caluş”
Constantin „Pipe” Cazangiu 1993: „Sîrba din Căluş”
C. Cazangiu & M. Ivanescu 1994: „Căluşarii”
B&J Loneux (LP Jocuri populare rom. III, 1994): „Căluşul”
Theodor Vasilescu 1996: „Călușarilor”
Stefan Kotansky 2002: „Căluşarii”
Dion/Florescu 2005: „Căluşul din Contesti”
Michael Ginsburg 2007 + 2009: „Căluşarii”

In den Stockton Folk Dance Camp Syllabi außerdem: 
A. Joukowsky 1961: „Calush dance from Gorj” 
C. Florescu 2004: „Căluşul din Conţeşti” 

(2) https://ich.unesco.org/en/RL/calus-ritual-00090: „Until today, Căluşari meet to celebrate their dancing and musical prowess”

(3) „Călușul modern este un joc spectaculos, de mare virtuozitate și măiestrie coregrafică.” https://ro.wikipedia.org/wiki/Călușul_oltenesc

(4) Informationsquellen zum Căluș (siehe auch Fußnote 9):

(5) Dexonline listet mehr als zwanzig Bedeutungen des Wortes căluș auf.

(6) Die rumänische Wikipedia nennt noch eine lange Reihe weiterer Namen. https://ro.wikipedia.org/wiki/Iele 

(7) „It is this highly precarious and ambiguous position of the călușari which requires them to respect and carry out the strict rules of behavior prescribed for the Căluș ritual. In order to practice these rites the călușari must be endowed with extraordinary psycho-physical qualities. The Căluș dance alone demands a very high degree of agility, power, and endurance – qualities that are developed over a considerable length of time through arduous training, practice, and devotion. The fine moral and physical condition of the men is maintained by rules and norms which forbid all excesses and which constitute the foundation for the organization of the team. In order to become a part of this closed ritual society, the group of initiates must take an oath to respect the various prescribed rules of behavior.” (Giurchescu/Bloland 1992 S. 41 f)

(8) Eine vergleichbare Konstellation mit „ernsthaften” Tänzern und mindestens einem Narren sowie einem Fruchtbarkeitsritual als Hintergrund findet man ebenfalls bei den englischen und walisischen Morris Dances. Je nach Region werden diese auch als Stocktanz ausgeführt.

 (9) Siehe hierzu auch: The Romanian Ritual of Calusari Between an Obsolete Meaning and a Preserved Structure. Article in Anthropos: International Review of Anthropology and Linguistics 108(2): 565-575 · January 2013


Nachbemerkung

Veröffentlicht am:  von HM

Im Februar 2019 haben wir uns ausführlich mit dem „Căluș – ein Ritual im Niedergang” beschäftigt. Bei den Recherchen zu diesem Thema fiel uns schon damals eine äußerliche Ähnlichkeit der Trachten, der Zusammensetzung der Gruppen und einigen Elementen des Tanzes zwischen Căluș aus Rumänien, Morris-Tänzen aus England und Baile de Bastones aus Spanien auf. Nicht in allen Fällen, aber doch auffällig oft kleiden sich die Tänzer dieser drei Traditionen auf die gleiche Weise in lange weiße Hemden über der Hose mit breitem, buntem Gürtel und bunten (meist roten) über der Brust gekreuzten Schärpen, reich geschmückten Hüten mit bunten Bändern und Schellen an den Knien. In den Händen halten sie einen oder zwei Stöcke, ähnlich einem Schwert. Die Gruppen haben einen Chef und einen Spaßmacher. In bestimmten Phasen ihres Tanzes marschieren sie im Gänsemarsch im Kreis. Diese Gemeinsamkeiten sind von Fall zu Fall mehr oder weniger ausgeprägt, in der Summe jedoch so auffällig, daß sie, wie wir meinen, kein Zufall sein können, obwohl die Länder, in denen diese Tänze leben, beinahe an den äußersten Enden Europas liegen. Wie kann das sein? 

Das sei reine Spekulation, da es für einen gemeinsamen Ursprung keinerlei Belege gebe, so hörten wir, als wir diese Frage mit Kennern der eropäischen Folklore diskutierten. 

Nun haben wir aber eine Erklärung entdeckt, die durch ihre Plausibilität besticht, obwohl auch sie Beweise schuldig bleibt. Wir meinen, wir sollten sie hier unseren Lesern bekanntmachen. 

Theodor Vasilescu, Folkloretanz-Experte und -Lehrer aus Rumänien erklärte anläßlich eines Aufenthalts in den USA gegenüber seinen Gastgebern: 

Der Căluș und die mit ihm verwandten Traditionen gehen zurück auf die Römische Kolonisation; sie werden überall dort praktiziert, wo die Römer geherrscht haben, in Südengland, Portugal, Spanien, Italien, Südfrankreich und Rumänien. 

Die Ähnlichkeiten sind derart augenfällig, daß sogar rumänische Călușari sich davon täuschen lassen, wie Vasilescu in einer Anekdote berichtet: 

Als er in jungen Jahren mit einer Tanzgruppe nach England reiste, schlief er mit seinen Kameraden im Zug im Bahnhof von Stratford-on-Avon. Als er erwachte, sah er draußen eine vorbeigehende Gruppe von Morris-Tänzern. Er weckte seine Freunde und alle dachten, das seien Călușari. Sie gingen hinaus, um sie tanzen zu sehen, und einer der Rumänen meinte: „Aber sie spielen die falsche Musik!” (Aus der Encyclopedia der Society of Folk Dance Historians)

Maurice Louis setzt sich in seinem Buch „Le Folklore et la Danse” (1963) in dem Kapitel über die Schwerttänze, zu denen die genannten drei zählen, intensiv mit allen ihren Spielarten in allen Regionen ihres Vorkommens in Europa auseinander. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß ihr Ursprung als Vegetations- und Heilungsritus weit zurückreicht in die Frühzeiten der Vorgeschichte der Menschheit („… ces danses – que tous les historiens s’accordent à considérer comme d’une ancienneté remontant aux époques les plus reculées de la préhistoire”, a.a.O. S. 246). Daraus folgt erstens, daß die römische Kolonisation als Erklärung für ihre Verbreitung wahrscheinlich entbehrlich ist und zweitens, daß sie im langen Verlauf ihrer Geschichte eine Vielzahl von Modifikationen und Verstümmelungen erlitten haben, insbesondere unter dem abwehrenden Einfluß der christlichen Kirche, der sie als heidnisches Erbe ein Dorn im Auge waren. Sicherlich erklärt sich dadurch auch das heutige Vorkommen dieser Tänze als isolierte Phänomene in großer geographischer Entfernung voneinander; mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie ursprünglich, d.h. in der Antike und im Frühmittelalter, flächendeckend verbreitet. Allein dadurch, daß sie nur noch in Form weit auseinanderliegender Reste existieren, fallen uns heute CălușMorris-Tänze und Baile de Bastones mit ihrer Ähnlichkeit auf. Louis widmet den Schwerttänzen ein umfangreiches Kapitel von 80 Seiten – genug Stoff für ein eigenes Projekt. 


Căluș: zweite Nachbemerkung

Veröffentlicht am:  von HM

In ihrem Buch über die Ursprünge des europäischen Tanzes (1) vertritt Elizabeth Wayland Barber die These, daß einige Details eines römischen Frühlingsrituals sich mit der Ausdehnung des Römischen Reiches nach Osten verbreitet haben und in das rumänische Căluș-Ritual integriert wurden. (2) Sie zählt eine Reihe von Elementen des römischen Rituals auf, die sich in gleicher oder ähnlicher Form bei den Călușari wiederfinden, bis hin zu einigen wichtigen Bezeichnungen. Damit stützt sie Theodor Vasilescus Aussage, der Căluș und die mit ihm verwandten Traditionen gehen zurück auf die Römische Kolonisation (3); sie trägt allerdings eine Reihe von Indizien zusammen (4): 

Călușari: Die Autorin beruft sich auf Wissenschaftler, die eine etymologische Herkunft nahelegen („researchers suggest …”): von dem lateinischen Begriff Colli-Salii zu dem rumänischen călu-şari. Die Salii (dt. „Springer”) waren Kollegien von 12 Männern; eines von ihnen benannte sich nach den römischen Stadthügeln (lat. collis„Colli-Salii”. Das „-r-“ in „căluşari” entspricht einem häufigen Lautwechsel bei lateinischen Wörtern, die in die rumänische Sprache eingingen (Rhotazismus: lat. caelum > rum. cer (Himmel), lat. sol > rum. soare (Sonne)), während die heutige Zuordnung zu „cal” – Pferd laut E.W.B. als Volksetymologie verstanden werden könne. 

VătafDer Anführer der rumänischen Călușari wird in Beziehung zu dem vātes der römischen Salii gesetzt und seine Bezeichnung vătaf aus dem lateinischen vātes hergeleitet. Die Rollen beider, ebenso wie die des römischen magister und des praesul bzw. des rumänischen mutulähneln einander auffallend; desgleichen die Tatsache, daß die Mitglieder sowohl der Salii als auch der Călușari vom Bandenchef ausgewählt werden und nicht etwa von einer höheren Instanz wie z.B. dem Oberpriester. 

Umzug, Tanz und Sprünge: Beide Kollegien ziehen umher, führen an bestimmten Stellen Tänze im Kreis auf, die durch hohe Sprünge und ein hohes Maß an sportlicher Kraft gekennzeichnet sind. 

Beide Rituale finden im Frühling statt. 

Tontopf: In beiden Ritualen wird im Verlauf der Aufführung ein Tontopf zerschlagen, um der Magie der Verrichtungen Nachdruck zu verleihen. 

Streifen im Kostüm: Die Bänder, mit denen die Kleidung der Călușari ausgestattet ist, erinnern an die Pteryges (Textil- oder Lederstreifen, die am Gürtel befestigt wurden und davon herabhingen) der römischen Soldaten. Auch die römische Tunika gleicht dem langen Hemd der rumänischen Tracht, das über der Hose getragen wird. 

Eine solche Zahl an Übereinstimmungen kann schlechterdings kein völlig willkürlicher Zufall sein. Der Auffassung, das Salii-Ritual, der Căluș und alle anderen mit ihm verwandten Traditionen seien in ihrer spezifischen Ausprägung mit dem Römischen Reich in Europa ausgebreitet worden, wollen wir uns daher nicht verschließen, auch wenn diese männerbündischen Heilrituale im allgemeinen sehr viel weiter in die Kulturgeschichte Europas zurückreichen und in Grundformen auch vor den Römern überall bereits vorhanden waren. 


(1) Elizabeth Wayland Barber: The Dancing Goddesses. Folklore, Archaeology, and the Origins of European Dance. New York, London 2013.

(2) „Some of these ritual details spread eastward across the Balkans with the Roman Empire“a.a.O. Kap. 18. Wir beziehen uns hier auf die e-Book-Ausgabe, daher keine Seitenzahlen.

(3) s.o.: Nachbemerkung vom 17.03.2021

(4) Hier der komplette engl. Text, auf den wir uns beziehen:

„Latin vātes meant “(sooth)sayer, prophet,” then “master, authority” in ceremonial rites (Lewis and Short 1879/1958; Chambers 1903, 25)—just like the vătaf. By medieval times, Romanian vătaf meant simply “overseer,” having lost its original specialized meaning outside of these Roman-inherited rituals.

As early Rome expanded across its seven hills, another college of Salii was founded, differentiated from the original Salii Palatini, as the Salii Collini. Researchers suggest that Colli-Salii became something like călu-şali, then călu-şari (l and r often got scrambled in Late Latin), which in turn was folk-etymologized as căl-uş “horseling, little horse” plus the agent suffix –ar, giving “little-horse people.” This must have occurred as the athletic bands of Saliiamong the colonists fused with Balkan notions of Dancing Goddesses and the popular hobbyhorses (as in figs. 5.4, 20.15–17). (See Vulpesco 1927, 189-90.)“

„Every March, a group or “college” of twelve priests called the Salii “Leapers” repeatedly carried the sacred shields and spears in procession around the city, stopping at designated places to dance as they sang. The sacred songs were maintained in a dialect so old that eventually people couldn’t understand them (as with the Rig Veda in India and the Catholic Mass in Europe), and the dance consisted of circling with majestic leaps while clashing the shields and spears together to the beat of the music. The higher the Salii jumped, the higher the crops would grow, while the noise served to protect the city by driving away evil spirits as humanity crossed the threshold of the New Year. Their music had a three-beat rhythm (tripudium), apparently anapestic like the Bulgarian rŭchenitsa: short-short-long. To the orator Seneca, the Salii resembled fullers stomping cloth—compare the Bulgarian women we saw dancing the rŭchenitsa to stomp their clay during Rusalia Week.

The Salii wore short multicolored tunics and spiked hats secured with a chin strap: to lose a hat while leaping would be inauspicious. Although the men themselves could be married or single and of any age, they had to have both parents alive, a stipulation encountered elsewhere in Rome and found often in Balkan ritual (e.g., for Enyo’s Bride). Unlike other priests, they were chosen not by the Pontifex, the high priest, but by their own officer, the magister, whose duties included festival logistics as well as swearing in and instructing newcomers. Another officer, the praesul, led the antiphonal dance, while a third, the vātes, conducted the songs, keeping the beat and chasing away anyone intruding on their space. The resemblance to the combined jobs of the căluşari’s vătaf and “mute” is remarkable, and, backed by the Latin term vātes from which vătaf came, shows that some of these ritual details spread eastward across the Balkans with the Roman Empire. Points of resemblance in fact abound. For example, sacrifices by the Salii involved a clay pot, while Roman soldiers were partial to using chickens for their offerings. (Recall that at the climax of a dance cure for rusalka sickness, the eldest dancer simultaneously smashed a new clay pot and killed the black chicken inside it with a sharp blow from his staff.)

Roman soldiers not only conquered territory for the empire but received farmland in the new regions as their veterans’ severance pay. Inscriptions suggest that these settlers brought along such favorite military traditions as the Salii “colleges” and their rituals requiring gymnastic prowess (which would explain why the ribbons on căluşari costumes resemble the lappets of Roman military garb (see fig. 5.1). This Roman origin may even solve the source of the Romanian name căluşari for what the Slavs call rusaltsi.” (a.a.O. Kap. 18)