Orijent

oder: Wie ein Kolo zu uns kam

Es lohnt sich immer wieder, mal bei den „Amis” vorbeizuschauen, auf den Internetseiten der Folk Dance Federation of California, South (SOCAL) oder der Society of Folk Dance Historians (SFDH) insbesondere die Encyclopedia oder die Articles zu durchstöbern (wenn man genug Englisch beherrscht …). Besonders auf der Suche nach einer bestimmten Information springen einem völlig andere, aber hochinteressante Themen ins Auge und am Ende weiß man nicht mehr, was man hier eigentlich wollte – wie früher beim Nachschlagen im Brockhaus oder dem Langenscheidt … Mir ging und geht es jedenfalls so.

Diesmal hat mich der Titel „Über Orijent” von Dick Crum eingefangen. Orijent ist einer meiner Lieblingstänze (1). Außerdem gehört er zu den ältesten Tänzen im Freizeittanzrepertoire, und drittens war Dick Crum ein ganz besonders kompetenter und stilbewusster Folkloretanzlehrer, dem die US-Szene viel verdankt. Einmal davon abgesehen, dass es fast immer höchst amüsant ist, Crums augenzwinkernde Berichte zu lesen, ist dies ein besonders interessanter Fund. Crum schreibt:

„Ich habe Orijent zum ersten Mal an einem Ostersonntag 1954 im Dorf Železnik in Serbien gesehen. Es war ein herrlicher sonniger Tag, und Dorfbewohner aus Železnik und Umgebung hatten sich auf einem riesigen Feld versammelt, um zu feiern. Ich schätze, es gab mehrere tausend. Das Feld war gepunktet von vielen Kolo-Kreisen, von denen jeder praktisch vom Meer der Zuschauer zerquetscht wurde. Als ich mich von einem Kreis zum anderen hindurchzwängte, stellte ich fest, dass die meisten eine Form des U šest tanzten, der eine oder andere Kreis tanzte Šetnja, aber viel mehr Kreise tanzten einen Kolo, der, wie man mir sagte, Orijent hieß. Während der Nachmittag fortschritt, notierte ich etwa ein halbes Dutzend verschiedene Varianten des Orijent, dieses faszinierenden Tanzes, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Von den vielen Varianten des Orijent, die ich in Železnik und anderen Orten beobachtete, wählte ich drei aus und kombinierte sie in einer festen Sequenz für die Verwendung in einer Bühnenchoreographie, die ich 1956 für die Duquesne University Tamburitzans (2) vorbereitete. Diese kleine Drei-Figuren-Sequenz verbreitete sich später in den Vereinigten Staaten unter Freizeit-Folkloretänzern. Sie ist natürlich in gewissem Sinne künstlich, da Orijent in seiner ursprünglichen Umgebung nie in einer festen Reihenfolge zu sehen wäre. Seine Nützlichkeit in dieser Form besteht darin, amerikanischen Tänzern, die es nicht gewohnt sind, in einem fremden Idiom zu improvisieren, die Möglichkeit zu geben, den Tanz in mehreren seiner Varianten zu genießen.” (3)

Festzuhalten ist m.E. vor allem der verschlungene Weg eines Folkloretanzes von seiner angestammten Heimat bis in die Freizeittanzgruppen. Wie Crum dies schildert, dürfte das Schicksal noch vieler weiterer beliebter Tänze aussehen: Zu Hause in ihrer Heimat leben sie in vielen Varianten, von denen ein Feldforscher eine Auswahl notiert; davon wählt er ein paar aus, kombiniert sie in einer festen Abfolge, ursprünglich für einen besonderen Zweck, aber diese Choreographie wird populär und verbreitet sich allenthalben. Und die Folkloretänzer (und Folkloretänzerinnen! – um ausnahmsweise auch mal zu „gendern” …) glauben, dies sei „der” Orijent.

Danach scheint durchaus plausibel, was Crum in demselben Artikel über die Diskrepanz zwischen westlicher (RIFD-)(4) Folkloretanzpraxis und derer in ihrem Ursprungsgebiet schreibt:

„Wenn ein einheimischer serbischer Tänzer jedoch die gleiche Reise [durch die USA von einem Folk Dance Club zum nächsten] machen würde, wäre er ziemlich verblüfft – entweder würde er seinen Tanz nicht erkennen, oder er würde es extrem schmerzhaft finden, sehr lange in der Schlange zu bleiben.”


(1) Tanzbeschreibung auf herwigmilde.de

(2) Duquesne University Tamburitzans in der Wikipedia (englisch)

(3) Quelle: https://socalfolkdance.org/articles/about_orijent_crum.htm

(4) RIFD: Recreational International Folk Dance, dt.: internationaler Freizeit-Folkloretanz