Sbor se sâbra (2): zwei Drachen kämpfen

In unserem Artikel vom April 2016 über das bulgarische Lied Sbor se sâbra mußten wir nach unseren intensiven Recherchen eingestehen, daß immer noch wichtige Fragen offengeblieben sind:  

Worauf beruht die Feindseligkeit zwischen dem Dorfburschen und Sajmandra? Was für einen Streit haben Lalo und Sajmandra? Geht es wirklich nur darum, daß Lalo nicht grüßt? Und endet die Geschichte einfach damit, daß der Kampf ergebnislos bleibt? 

Wir vermuteten damals, daß dies daran liegt, daß wir es hier wieder einmal mit einem zusammengekürzten, auf die Bedürfnisse der Musikindustrie zurechtgestutzten, original sehr viel längeren Lied zu tun haben und versprachen, unsere Leser auf dem Laufenden zu halten, sobald wir über eine längere Version erfahren würden. 

Inzwischen sind wir fündig geworden. 

Sbor se sâbra gehört zu der Liedkategorie „Kampf des Bastards mit dem Drachen”, von der es zahlreiche Varianten gibt, die meist das Mehrfache an Versen umfassen gegenüber unserem Lied (1). In seiner Studie „Mythos, Epos, Geschichte – Altbulgarische historisch-apokalyptische Sagen”, Kapitel 5 (2) faßt Todor Mollov das Geschehen in den Liedern dieser Thematik zusammen. Wir dürfen den Begriff „Bastard” (копиле) nicht im negativ besetzten sozialen Sinn mißverstehen. Die Biologie kennt dafür den Ausdruck „Hybride”. Gemeint ist ein Mischwesen aus Mensch und Ungeheuer am Rande der menschlichen Gesellschaft, an anderer Stelle „Drachen-Bastard” (копиле-змей) genannt. Eine andere Bezeichnung für ihn lautet „Wiedergänger-Junge” (дете-посмъртниче), womit auf seine Mittlerrolle zwischen der Unterwelt und der Welt der Menschen angespielt wird. Diese Kategorisierung ist bedeutsam für das Verständnis des Geschehens und seiner Akteure.

Mollov faßt also zusammen: 

„a) Auf dem Hügel von Borovan [Борованската могила] (…) findet am 9. Mai [на Летен Свети Никола] eine religiöse Versammlung (Messe, Kirmes) des ganzen Dorfes (…) statt; der Reihe nach sitzen Popen, Bürgermeister, Hadschi, Herren, sie essen „unfruchtbares Rind” und gegrilltes Lamm und trinken klaren Wein; die Jungen werfen den Stein, die Mädchen tanzen Horo. 

b) Nur ein Junge, Nikola (…), vergnügt sich nicht, er sitzt verträumt und schweigend. Man fragt ihn, warum; er antwortet, sie sollen sich vergnügen, aber sie sollen auch Gott bitten, daß der Drache (хала) nicht kommt und ihnen die Kirmes verdirbt … 

c) So geschieht es; alle außer dem Jungen erheben sich und begrüßen ihn (küssen die Hand usw.), was [= die Weigerung des Jungen] der Anlaß zum Kampf ist. 

d) Der Kampf dauert drei Tage und drei Nächte mit wechselndem Erfolg (…) und am Ende hebt der Junge den Drachen hoch und schleudert ihn zu Boden (…).” 

(In Klammern, z.T. ausgelassen: Varianten oder Details) (3)

Nikola und Sajmandra: zwei Drachen

Der Schlüssel zum Verständnis des Geschehens ist die Figur des Jungen Nikola, in dem wir den Lalo unseres „Sbor se sâbra” wiedererkennen. Er weiß offenbar mehr als die übrigen: Er bleibt ernst, beteiligt sich nicht an der allgemeinen Belustigung (üppig essen, Wein trinken, spielen und tanzen) und warnt vor dem Drachen (dieses Detail fehlt in unserem Lied). Er wird als Außenseiter beschrieben; eine Variante des Liedes (4) nennt ihn einen „Waldbastard” (горно копиле) und berichtet das Detail, daß er nicht eingeladen wird, aber als er vom Fest hört, uneingeladen kommt. Mit seinem Ausdruck „змей-халоборец” – Zmej und Drachenkämpfer – wird Mollov (5) noch deutlicher: der junge Held unklarer Herkunft ist selbst ein Drache in Menschengestalt, als Zmej ein Gegenspieler der Hala, einer anderen Kategorie von Drachen. 

Wir kommen damit zur zweiten Hauptfigur: Sajmandra. 

Mollov nennt eine Reihe von Varianten des Namens, unter denen zwei auffallen: Zamanda, Sâlmândâr, Samandra, Salandra, Semendra, Sâmandra, Samendra, Simendra, Sârmânda, hala salamandra. (6)

Tiefe Schichten uralter Mythen

Damit wird klar, daß unser Lied mit dem Namen Sajmandra nicht nur vage anspielt auf den Drachen Semendra, sondern ihn ausdrücklich nennt. Die Namensvariante „hala salamandra” führt uns unmittelbar zu den mythischen Gestalten der alten europäischen ethnischen Religionen (früher „Naturreligionen” oder „Heidentum”). Als Feuergeist war der Salamander bereits in der Antike bekannt; so berichtet Plinius der Ältere von ihm in seiner Naturgeschichte. Weitere Feuergeister sind die Wyvern (engl. guivres, frz. vouivres) (7) und die feuerspeienden Lindwürmer. Der französische König François I griff die Tradition dieses Mythos auf und erwählte den flammenbekränzten Salamander zu seinem Wappentier mit der Devise: „Nutrisco & extinguo” – ich nähre und lösche es (das Feuer). 

Als Herrscher des Feuers besitzt der Salamander ungeheure Macht über die Welt und die Menschen; bulgarische Kulturwissenschaftler sehen in der Hala Semendra, dem Feuersalamander, die tierische Erscheinungsform des altbulgarischen Wetter- und Donnergottes Perun. (9)   

Der Zmej dagegen regiert als Luftgeist über die Wolken und den Regen, Stürme und Dürren und damit über Wohl und Wehe der Landwirtschaft. Menschen können einen Zmej mittels Opfern oder Heilkräutern beeinflussen; er wird dann zum Beschützer „seines” Dorfes. Sein primärer Gegner ist Perun, der in Gestalt der Hala Semendra auftreten kann. 

Damit sind wir wieder bei unserem Lied „Sbor se sâbra” bzw. den Liedern der Kategorie „Kampf des Bastards mit dem Drachen” angelangt – und gleichzeitig bei tiefen Schichten uralter mythologischer Überlieferung. Die Lieder behandeln den Widerstreit übermächtiger kosmischer Mächte bzw. Naturkräfte, inszenieren ihn mit Figuren, die in der Mythendichtung vielfach und detailreich ausgestaltet sind (10), innerhalb der vertrauten Szenerie des Dorflebens: Da taucht bei einem Fest der gefährliche Feuerdrache Sajmandra auf und trifft im Kreise der Dorfbewohner auf den beschützenden Luftdrachen in Gestalt des Helden Lalo; es kommt wie berichtet zu einem schrecklichen Kampf. 

Unser Dank gilt Irena Staneva, die den Tanz Pazardžiška lesa mit dem Lied Sbor se sâbra zu uns gebracht und uns damit auf die Fährte dieser faszinierenden Entdeckungen geführt hat. 


(1) Beispiel: Nikola i hala Semendra. (https://liternet.bg/folklor/sbornici/bnt/4/82.htm) Im Vergleich damit ist unser Sbor se sâbra in der Tat eine schlimme Verkürzung der Handlung, durch die viele aufschlußreiche Details verloren gegangen sind.

(2) Мит – Епос – История. Старобългарските историко-апокалиптични сказания (992-1092-1492), пета глава
https://liternet.bg/publish/tmollov/mei/5_3.htm#38

(3) Показателна с оглед на темата ни (и продължение на изложеното по-горе) е митичната песен „Борба на дете-посмъртниче (копиле) с хала“, разпространена само в българското етнично землище. Тя има няколко характерни устойчиви звена:

а) На Борованската могила (Гушанци, Търняне, Бутан, Борован, Горно Церовене, Лехчево) се събира общоселски (или регионален) религиозен празничен събор (панагир) на Летен Свети Никола (Борован, Гурково); наред седят попове, кметове, хаджии и чорбаджии, ядат (ялова крава; печено агне) и пият руйно вино; момците мятат камък, момите хоро играят.

б) Само едно момче Никола (Бутан, Горно Церовене); Никола „горно копиле“ (Търняне, Лехчево – иде неканен); гяче Никола (Гьобел; Суходол) не се весели – седи унесено и мълчаливо. Питат го защо; отговаря – да се веселят, но и да се молят на Бога да не дойде халата, да не им разпилее събора…

в) Ето че иде; всички, освен момчето, стават на нозе и я поздравяват (отдават селям; целуват ръка и коляно), което е повод да се сборят.

г) Борбата трае три дни и три нощи с променлив успех (и опит на мащехата да помогне на Антагониста, като отрови Никола /дава му вода със змийска отрова или отровни билки/ – Търняне, Суходол, Гьобел, Лехчево), най-сетне момчето вдига халата и я побива в земята (или я сече на дребни късове-чейреци и я окача по глогови тръни).

(4) Никола и хала Семендра. https://liternet.bg/folklor/sbornici/bnt/4/82.htm

(5) a.a.O.

(6) https://liternet.bg/publish/tmollov/mei/5_3.htm#40a:
„40. Име: Заманда (БКн, Арх. Н. Геров, N. 119; Константиново, Караман-кьой); Сълъмдър (Гьобел); „Самандра сама гидия“ (Торбалъжи); „Саландра, луда гидия“ (Петково); „Самандра, Самасадура“ (Екши-су); „Самандра, сама гидия“ (Грънчарово); Золум, Золума (Лешко, Покровник); Солуна, Солума (Падеж, Селище); Семендра (Търняне, Бутан; вар.: „Семендра луда лудиа,/ луда лудиа бекрия“ – Суходол); Съмандра (Чехл.); Самендра (Горно Церовене); „Симендра бекрия“ (Суходол); Самандара-самозадорица (Асанбегово); „Съръмда влачка войвода“ (Стан), хала саламандра (Лехчево).”

(7) https://de.wikipedia.org/wiki/Wyvern

(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Lindwurm

(9) Анчо Калоянов: „Ако зад Хала Семендра в споменатата вече песен стои саламандър (дъждовник), то и на българската митопоетична традиция ще се окаже присъща животинската хипостаза на бог Перун …”  (https://liternet.bg/publish/akaloianov/stb/mihail.htm)

(10) Ausführlich siehe Hala und Zmej in der bulgarischen Wikipedia