Aus einer verlorengegangenen Welt: Martin Koenig – Sound Portraits from Bulgaria

„Zwischen 1966 und 1979 machte der Pädagoge und Dokumentarfilmer Martin Koenig ein halbes Dutzend Reisen nach Bulgarien. Er besuchte Dörfer im ganzen Land und filmte, machte Tonaufnahmen und fotografierte die lebendigen, aber gefährdeten Aspekte der traditionellen Kultur Bulgariens. Die Ergebnisse sind in Sound Portraits from Bulgaria konserviert – das pulsierende Leben, das er in den Dörfern miterlebte, die virtuosen Musiker und Tänzer, denen er begegnete, die außergewöhnliche Musik, die sie spielten und die fröhlichen Bräuche und Feste, denen er beiwohnte. Diese Sammlung feiert eine Lebensweise, die durch Industrialisierung, Technik, Globalisierung und Emigration weitgehend verschwunden ist.” (1) – So lautet es kurz und bündig im Klappentext des 2019 erschienen Buches (2). 

Schon im Untertitel steht: „A Journey to a Vanished World“, „eine Reise zu einer verschwundenen Welt” – und auf Seite 47 lesen wir genauer: 

„Krǎstju Gočev sagte, früher, d.h. in den fünfziger und sechziger Jahren, als die Dörfer voll bewohnt waren, hatte jedes Dorf eine Reihe von mindestens fünfzehn hervorragenden Tänzern, die die komplizierteren Schritte beherrschten, die vom Anführer der Reihe angesagt wurden. Das Dorf Kermen hatte laut Štilijan fünfunddreißig ausgezeichnete Tänzer. Inzwischen wurden jedoch keine Kirchenfeste mehr gefeiert, bei denen die Menschen Gelegenheit gehabt hätten, diese Tänze zu tanzen. Ich war jedoch sehr beeindruckt von der Anzahl herausragender männlicher und weiblicher Tänzer aller Altersgruppen, die auf dem Dorfplatz an diesem Augustnachmittag in Mladovo tanzten.” (3) 

Es waren also nicht nur die allgemeinen globalen Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung, die in Bulgarien an der Zerstörung der dörflichen Kultur beteiligt waren. Maßgeblich wirksam war auch die gezielte Umgestaltung der Kultur nach ideologischen Maßgaben unter dem kommunistischen Regime, das alle religiösen, kirchlichen oder vorchristlichen Ausdrucksformen unterdrückte, vor allem Bräuche, Rituale und Feste. 

Wer das Buch bestellen möchte, mag über den Preis von rund 60 Euro stutzen. Hält man das Werk aber in den Händen, erweist sich der Betrag als vollkommen gerechtfertigt allein durch seine hohe materielle Qualität, die aufwändige und hochwertige Ausstattung. Es bietet nicht nur 144 Seiten Text (englisch und bulgarisch) und hervorragende großformatige Schwarzweißfotos, sondern auch zwei CDs mit 37 Titeln von Koenigs Feldaufnahmen aus den Jahren 1966 bis 1979. 

Beim näheren Hinschauen werden die erstaunlichen Dimensionen des Projekts sichtbar, z.B. anhand der langen Spenderliste; allein die sechs größten Geldgeber brachten über 100.000 $ auf. Auch die Liste der Unterstützer ist umfangreich und enthält zahlreiche namhafte Persönlichkeiten und Institutionen. Die Smithsonian Institution bürgt für die hohe Qualität der Produktion. Das gilt nicht nur für das Buch; auch die Musikaufnahmen besitzen eine für Feldaufnahmen jener Zeit erstaunlich saubere, klare Tonqualität. 

Ausführliche Kommentare zu den einzelnen Aufnahmen, zu den Musikern, den Situationen, in denen sie entstanden und allgemeine Informationen zu den Instrumenten und zu der traditionellen Musikpraxis (Bräuche usw.) machen das Werk zu einer Fundgrube für Leser, die sich dafür interessieren, woher die Musik und die Tänze kommen, die ihnen ans Herz gewachsen sind. Ihr lokaler, sozialer und kultureller Kontext tritt dadurch in bemerkenswerter Klarheit hervor. Viele Anekdoten über das Zustandekommen der Aufnahmen und ungestellte, lebendige Fotos vermitteln einen intimen Zugang zu den Menschen und ihrer Volkskultur. Dazu trägt auch die Sorgfalt bei, mit der Martin Koenig zu jedem Titel Ort und Namen der Musiker nennt. 

Martin Koenig lehrt Folkloretänze seit 1966 vor allem in den USA, Canada und Europa (4). Darüber und über seine Feldforschung hinaus widmet er sich der Unterstützung und Förderung der Volkskunst. Er gründete 1966 das Balkan Arts Center, heute Center for Traditional Music and Dance in New York, und ist bis heute Mitglied seines Leitungsausschusses. Er ist als Fachman für europäischen Volkstanz in Nordamerika und international anerkannt. 

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(1) „Between 1966 and 1979, educator and cultural documentarian Martin Koenig made half a dozen trips to Bulgaria. Working in villages throughout the country, Koenig filmed, recorded, and photographed the lively, yet endagered, aspects of Bulgaria’s traditional culture. The results are indelibly gathered in Sound Portraits from Bulgaria: the vibrant rural life he experienced, the virtuosic musicians and dancers he met, the extraordinary music they made, and the joyous rituals and festivals he witnessed. This collection celebrates a way of life that has largely vanished due to industrialization, technology, globalization, and emigration.”

(2) Webseite zum Buch: https://folkways.si.edu/sound-portraits-from-bulgaria

(3) „Krastyu Gotchev said that in the old days, that is, in the 1950s and 1960s when the villages were full, every village would have a line of at least 15 excellent male dancers who could do the more intricate steps that would be called by the leader of the line. The village of Kermen, according to Shtiliyan, had 35 excellent dancers. In time, though, there were no longer religious holiday celebrations where people had the opportunity to do these dances. However, I was very impressed by the number of excellent male and female dancers of all ages who were dancing in the village square that August afternoon in Mladovo.”

(4) Ausführliche biographische Informationen über Martin Koenig bei der Folk Dance Federation of California, South und beim East European Folklife Center