… Coconească, Mândrele
Mutmaßungen über Tänze, deren Namen sich auf hohe Positionen in der feudalen Gesellschaft beziehen.
Boierească (auch Boerească, bei gleicher Aussprache), ein Adjektiv, leitet sich ab von boier, dt. Bojar, ursprünglich ein Adelsrang unterhalb des Fürsten, in Rumänien teilweise noch bis 1945 zu finden; zu dieser Zeit waren es noch Großgrundbesitzer. Der Begriff entstand im Ersten Bulgarischen Reich Anfang des 10. Jh.. Er lebt in der bulgarischen Folklore fort, z.B. in dem (Tanz-)Lied Ovdovjala lisičkata. Im Lied von Iancu Jianu kommt der Bojar ebenfalls vor, allerdings interessanterweise mit dem rumänischen Ausdruck ciocoi, abfällig für einen emporgekommenen Ausbeuter aus den Reihen der Pächter oder Beamten. (1)
Coconească (auch Coconeasa, Coconița, srb. Kukunješte u.ä.) geht auf das rumänische Wort cocoană („Dame”) zurück; coconița (Diminutiv von cocoană, „Fräulein”) war ein Ehrentitel für Damen des Adels oder der bürgerlichen Oberschicht.
Mândrele von „mândru/mândra” mit der bestimmten Artikel-Endung „-le” bedeutet auf Deutsch „die Schönen/Stolzen/Hochmütigen”. Laut Leonte Socaciu (1987 Freiburg/Brsg.) sind mândre Töchter der Großgrundbesitzer, Bojaren (s.o.) bzw. Landherren, d.h. Angehörige der Oberschicht in der dörflichen Gesellschaft. (Weitere Bedeutungen dieses schillernden Wortes siehe Mîndrele: ein interessanter Tanztyp; wir konzentrieren uns hier auf mândre als soziale Klasse.)
Mit Sicherheit sind das keine Tänze „der Bojaren”, „der Edelfräulein”, „der Bojarentöchter”, jedenfalls nicht in dem Sinn, daß die mit diesen Begriffen bezeichneten Personen diese Tänze (früher) getanzt hätten – ganz im Gegensatz zu den Tänzen bestimmter Berufsgruppen (Zunfttänze) wie Metzger (Kasapsko horo, Hasapikos), Töpfer (Grănčarsko), Kupferschmiede (Kalajdžisko, Hora spoitorilor) usw., für die diese Tänze ein Mittel zur Selbstdarstellung waren. Die Vorstellung, daß die Adeligen sich unters Dorfvolk gemischt und auf dem Dorfplatz „ihren” Tanz getanzt hätten, ist völlig abwegig. Der Rang des Bojaren war einer der höchsten Adelsränge. Wie sollen wir dann aber verstehen, wie der Tanzname „Bojarentanz” gemeint war?
Der Schlüssel dazu ist eine Grundfunktion des Tanzes:
Seit der Frühzeit menschlicher Kultur ist Darstellung bzw. Nachahmung ein konstitutiver Bestandteil des Tanzes. Kulturhistoriker und Anthropologen sind sich darin einig. So spricht Curt Sachs (2) von „bildhaften” Tänzen bereits am Beginn der Tanzgeschichte der Menschheit (neben den bildfreien, abstrakten Tänzen.), deren Zwecke Darstellung, Nachahmung, Kraftübertragung und Zauber sind. Maurice Louis (3) stellt die Existenz von darstellenden oder nachahmenden Tänzen („danses figuratives ou imitatives”) bereits seit der Altsteinzeit fest. Auch Michael Hepp (4) erwähnt darstellende Tänze der altsteinzeitlichen Jäger.
Tanz war also schon immer auch eine darstellende Kunst. Die Nachahmung, insbesondere die von Personen kann verschiedene Gesichter haben: neutral im Sinne von Zeigen und reinem (formtreuen) Darstellen, positiv als Bewunderung, Verehrung oder Überhöhung und negativ, um die Dargestellten nachzuäffen, vorzuführen, bloßzustellen oder zu verspotten.
Auch die „reine” Darstellung des anderen ist keine Eins-zu-eins-Kopie, wie Theodor Vasilescu zu bedenken gibt: Die Tänzer tanzen so, wie sie glauben, daß die anderen tanzen. So hat ein serbischer Mađarac, d.h. „Ungarischer”, keinerlei Ähnlichkeit mit dem echten ungarischen Tanzstil; desgleichen tanzen die Ungarn einen Olahós, einen „Vlachentanz” auf sehr ungarische Art. (5)
Solche Stilkritik greift freilich kaum, wenn der Zweck der Darstellung der anderen gar nicht auf Stiltreue abzielt, wenn also ein Spannungsverhältnis besteht zwischen den Tänzern und den Dargestellten, oder gar ein kritisches Machtverhältnis. (Wann wäre je ein Machtverhältnis nicht kritisch? Und insbesondere in der vorindustriellen, feudalen Gesellschaft Rumäniens!)
Wir wissen zwar sehr wenig bis gar nichts über die soziale Funktion von Tänzen wie Boierească, Coconească und Mândrele, es fällt aber auf, daß sie sich auf bestimmte Kategorien von gesellschaftlich höherstehenden und nicht anwesenden Personen beziehen: auf Bojaren (Boierească), adelige Damen (Mândrele) und Edelfräulein (Coconească). Dreht es sich hier denn um Verehrung oder vielleicht eher um Verspottung? Die Unterschicht unter sich, bei Musik, Gesang und Tanz, Wein und Schnaps, neigt bekanntlich dazu, gegen die Herrschenden aufzumüpfen; das hat uns in Deutschland ja in der Folge der Bauernkriege unsere althergebrachten Kreistänze, die Reigen gekostet (6).
Aber Plausibilität ist noch kein Beleg. Jedoch dürfen wir uns, solange wir nichts Genaueres wissen, unsere begründeten Gedanken machen.
(1) dexonline.ro: ciocoi, s. m. 1. Termen de dispreț pentru un exploatator (mai ales al populației de la sate) parvenit din rîndurile arendașilor, vătafilor etc. … peior. Persoană bogată, provenită din rândul arendașilor sau al vătafilor; boier parvenit.
(2) Sachs, Curt: Eine Weltgeschichte des Tanzes (1933), S. 38, 40 und 53 ff
(3) Louis, Maurice: Le Folklore et la Danse (1963), S. 27
(4) Hepp, M.: Genese und Genealogie westeurasischer Kettentänze (2015), S. 108 f
(5) „Theodor Vasilescu comments on Romanian Dance and Music (SFDH encyclopedia): Zlata is a Muntenian dance. Zlatari, that is ’the gold jewelry makers’, that is Roma. Zlatari has been generalized in the Romanian language to refer to the ’nomadic’ Roma, although it really isn’t proper terminology. This dance is based upon how the Romanians think the Roma dance. The steps include some ’Rom-like’ steps. […]
Many names in Balkan countries dance repertoire show that the peasants believe they are dancing ’like’ others. For example a Serbian dance called Mađarac (Magyar meaning Hungarian) is a very Serbian dance since the dance does not show any resemblance to Hungarian style. Hungarians have a dance called Olahós, which means Romanian, but it is done in a very Hungarian style.“ (https://www.sfdh.us/encyclopedia/romanian_dance_and_music.html)
(6) Siehe unseren Artikel Wo sind unsere Reigen geblieben?