Pasarelska – ein Tanz aus einem Buch

Pasarelska, ein bulgarischer und manchmal auch als makedonisch klassifizierter Tanz, lebt bereits seit Jahrzehnten in unserer (westlichen) Folkloretanzgemeinde und erfreut sich immer noch ungebrochener Beliebtheit. Mit der zunehmenden „Live-Musik” entstand auch der Bedarf nach Noten; und für eine saubere Edition mußten Angaben zu Quellen und Herkunft zuverlässig erforscht werden. Diese Recherchen entpuppten sich als regelrechter Krimi. Diskussionen, Fragen, Beiträge erstreckten sich in der Korrespondenz (discussion list) des East European Folklife Center (eefc) über Monate in zwei Phasen 1998 und 2019. Wir fassen zusammen und ergänzen mit eigenen Funden. 

Glücklicherweise finden sich inzwischen zahlreiche schriftliche Dokumente über die Pasarelska – meist Tanzbeschreibungen – in den einschlägigen Portalen und Foren. Bei den insgesamt 20 Tanzbeschreibungen (alle englisch, dazu eine deutsche), die uns vorliegen, fällt schnell auf, daß sie alle auf wenige Ursprünge zurückgehen, sehr oft sogar einfach abgeschrieben wurden. Es gibt Autoren, die noch 2001 behaupten, schriftliche Quellen seien nicht verfügbar. Die übrigen berufen sich entweder auf Yves Moreau oder die Quelle, auf die seine Gewährsleute zugegriffen hatten, Boris Conevs Buch „Ausgewählte bulgarische Volkstänze Band III“ (Izbrani bălgarski narodni hora tom III), Sofia 1957, wo eine Pasarelska lesá beschrieben ist. (Hörproben siehe unten.)

„Pasarelska” oder „Pasarelska lesá”

Im Gegensatz zu Boris Conev schreiben sämtliche nordamerikanischen Dokumente, Tanzbeschreibungen ebenso wie Noten, ausnahmslos „Pasarelska”, ohne den zweiten Teil des Namens „lesá”. Sollen wir daraus entnehmen, daß es sich um zwei verschiedene Tänze handelt? 

Das Wort lesá (kyr. леса) bedeutet 
a) Gürtelfassung beim Tanz (1)
und
b) Tanz in Gürtelfassung, eine Tanzkategorie wie răčenica, horo, kopanica: Pasarelska lesa, Graovska lesa, Radomirska lesa (2).

Die zahlreichen weiteren in Lexika dokumentierten Bedeutungen von lesá beziehen sich auf Flechtwerk, meist aus Stangen oder Zweigen; dies entspricht der „Korbfassung”, die der Gürtelfassung sehr ähnelt. (3)

Pasarelska ist ein Adjektiv, das eine Ergänzung durch ein Substantiv erfordert. Es bedeutet „aus Pasarel” (einem Dorf bei Samokov im Šopluk, der Region um Sofia). Es endet auf „-a” und verweist damit auf eine weibliche Bezeichnung wie „lesa” oder „răčenica”. Der Tanzname „Pasarelska” ist also unvollständig, ähnlich wie „Graovsko”, ein Adjektiv, dem die Ergänzung „horo” fehlt. Bei „Pasarelska lesa” und „Pasarelska” handelt es sich daher nicht um verschiedene Tanznamen oder gar verschiedene Tänze, sondern nur um die Voll- und die (übliche) Kurzform des Namens. (4)

Doch zwei verschiedene Tänze?

Wir verfügen über Conevs Beschreibung der Pasarelska lesá. Obwohl sie in einer besonderen Tanznotation verfaßt ist, die wir sonst nirgends antreffen, auch nicht bei anderen bulgarischen Autoren wie Krasimir Petrov, Nikolaj Cvetkov, Boris Vălkov oder Ivan Donkov, können wir sie dank der Beschreibung im Text mit den amerikanischen vergleichen. Dabei treten einige teils geringfügige, teils bedeutende Unterschiede zutage. Allen gemeinsam ist jedoch der Rhythmus 3+2+2 = 7/16, in Bulgarien bekannt unter der Bezeichnung Četvorno.

Ganz erheblich erscheint aber der Kontrast zwischen der Pasarelska, wie wir sie kennen, und einer Pasarelska lesá, von der ein Video im Internet zu sehen ist, aufgeführt durch die Gruppe „Folkpalitra” aus Sofia. Auf den ersten Blick ist das ein ganz anderer Tanz. Das enorme Tempo von Anfang an (ein Takt = 69 bpm) – und demzufolge der Tanzstil – springen sofort ins Auge. Unsere Pasarelska hingegen kommt mit anfänglichen langsamen „Schleich”-Schritten (ein Takt = 34 bpm) sehr getragen daher. Sie steigert sich zwar bald bis auf 60 bpm (immerhin das von Conev vorgegebene Tempo), bleibt damit aber immer noch deutlich unter dem rasanten Tempo der Sofioter Gruppe. Man muß aber genauer hinschauen. Sieht man von stilistischem Beiwerk ab, entsprechen die Schritte der „Folkpalitra” ziemlich genau Conevs Beschreibung. 

Vergleicht man nun die zuverlässigsten drei Pasarelska-Versionen von Yves Moreau 1969, Dean Linscott 1974 und Dick Oakes (nach Rubi Vučeta) 1986 mit Conevs Version, und konzentriert man sich dabei vor allem auf die Schritte, findet man auch hier weitgehende Übereinstimmung. Lediglich in den Takten 6 (Oakes) bzw. 5 und 6 (Moreau) (von 10 Takten) sind Abweichungen festzustellen, und zwar sind dieselben Schritte wie bei Conev bei Moreau und Oakes um nur einen Taktschlag (ein Achtel) vorgezogen; wir sehen darin nur einen minimalen Umsetzungsfehler von derselben Vorlage (s. Pasarelska-Vergleich).

Der Rest sind Raumbewegung und Stil. Bei Conev bewegt die Pasarelska sich nur über die beiden ersten Takte seitlich nach rechts, die folgenden 8 Takte werden am Platz getanzt. In der „westlichen” Pasarelska bewegen die Tänzer sich ab Takt drei zur Mitte und wieder zurück (5). Dem langsameren Tempo des Anfangs entsprechend sind die Schritte weich federnd, der Körper bei der Vorwärtsbewegung und besonders beim Stampf in Takt 7 etwas gebeugt. Sobald das Tempo anzieht, weicht die Beugung einer aufrechten Haltung, die Schritte werden zu Laufschritten. Dennoch erreicht der Tanzstil nicht die starke vertikale Akzentuierung der schopischen Pasarelska lesá. Der Gesamteindruck des Tanzes ist durch Tempo und Stil trotz (fast) gleicher Schritte völlig unterschiedlich. 

Und wie kam das? 

Die Geschichte von der Quelle der „westlichen” Pasarelska liest sich abenteuerlich. Yves Moreau erzählt: 

„Ich lernte die Pasarelska 1967 von Rubi Vučeta. Rubi war eine beliebte Balkantanzlehrerin in Los Angeles … Ich erinnere mich auch, daß Rubi erwähnt hatte, daß sie die Pasarelska von Ricky Tejada-Flores gelernt hatte, der … sie aus Boris Conevs Buch … «entziffert» hatte.” (6)

Alle Wege führen also „nach Rom”: zu Boris Conev. Auch wenn Rick Tejada-Flores sich nicht daran erinnert – seit 1969 ist er nicht mehr im Folkloretanz aktiv – (priv. Mail v. 05.07.2019), wird dieses Herkunftsdetail von Andrew Carnie (eefc-Mail v. 31.05.1997) bestätigt. (7) 

Conev selbst benennt ebenfalls seine Quelle: „Ein Volkstanz [Reihentanz: lesá], der seinen Namen von dem Dorf Pasarel im Gebiet Samokov hat, wo er seit vielen Jahren getanzt wird.” (8)

Nun stellt sich erst recht die Frage, warum dann die originale, schopische Pasarelska lesá derart anders aussieht und klingt als „unsere”, obwohl beide aus demselben Ursprung kommen – und das kleine Wort „klingt” ist der Schlüssel zu diesem Rätsel. 

Ron Houston klärt auf: Die San Franciscoer Tanzgruppe „Rusali”, in der u. a. Rick Tejada-Flores aktiv war, kombinierte Conevs Pasarelska lesá mit einem Musikstück von der LP „World Library of Folk and Primitive Music Vol XVII: Bulgaria” (Columbia KL 5378, 1959) unter dem nicht ganz korrekten Titel „Makedonske Horo”. (9)

Der Četvorno-Rhythmus 3-2-2 = 7/16 und das Tempo (zumindest ab der Mitte) schienen zu passen. Man nahm, was man kriegen konnte, da durfte man in diesen Zeiten, als Platten mit Folkloremusik kaum verfügbar waren, nicht wählerisch sein. (Eine plastische Schilderung dieser Situation gibt der Eintrag „Pasarelska” auf der Webseite der Society of Folk Dance Historians.) Was dabei freilich unter den Tisch fiel, war die Tatsache, daß Conev die Pasarelska lesá eindeutig im Šopluk lokalisiert hatte. Mit der makedonischen oder pirinischen Musik der Columbia-LP, gespielt von zwei Musikern aus Petrič (Pirin) auf einer tief gestimmten Tambura und einer Dajre (Rahmentrommel, in diesem Fall ohne Schellen) sowie dem langsamen Anfang erhielt der Tanz einen völlig anderen Charakter. Yves Moreau bezeichnet ihn als „sehr west-rhodopisch oder ost-pirinisch” (priv. Mail 27.06.2019). Seine Raumbewegungen zur Mitte und zurück verdankt er, wie René Besné es in einer privaten Mail vom 30.04.2019 berichtet, offensichtlich dem Einsatz in einer auftretenden Tanzgruppe („Rusali”), die die Choreographie bühnentauglich anpaßte. Jedoch haben Freizeittänzer es damit im Lauf der Zeit seiner Meinung nach arg übertrieben. („Recreational dancers have substantially accentuated these ground coverages to a degree where they are beyond all reason.” a.a.O.) 

So ist also der enorme äußerliche Unterschied der beiden Pasarelskas ausschließlich auf die Wahl der Musik durch Dick Monson und Rick Tejada-Flores und auf die Anpassung des Tanzstils an diese Musik zurückzuführen – die Metamorphose eines schopischen zu einem westthrakisch-rhodopisch-pirinischen Tanz, bei im Prinzip denselben Schritten. 

Eine Reihe von Musikaufnahmen in zwei Varianten sind für die Pasarelska in Gebrauch. Wer genau hinhört, kann sein blaues Wunder erleben, was Nutzer der Musikaufnahmen gelegentlich damit anstellen. 

Variante 1:
Makedonske (sic!) horo, LP „World Library of Folk and Primitive Music Vol XVII: Bulgaria“ (coll. A.L. Lloyd), Columbia KL 5378 (1959).
Interpreten: Ali Časmakov (Tambura) und Mehmet Džambazov (Dajre) aus Petrič, Blagoevgrad.

Kopien hiervon:
• Pasarelska, XOPO X-330
• Pasarelska, Mediterranian Med 4003
• Pasarelska, Folk Dance Underground vol. 4
• Pasarelska in den Tanzprogrammen von Yves Moreau und Steve Kotansky

Variante 2:
Beliško horo, LP „Bâlgarski narodni instrumentalni melodii“, Balkanton BHA 340 (1962)
Interpreten: Lokale Gruppe aus Belica mit Tamburas und Perkussion.
Eine Besonderheit hier: der erste langsamere Teil wird in 8/16 gespielt, erst mit der Beschleunigung wird es zu 7/16.

Kopien hiervon:
• Pasarelska, LP „Horo and Račenica – Dances of Bulgaria“ XOPO X-LP-4
• Pasarelska im Tanzprogramm von Maria Eftimova (hier geschnitten; der langsame Melodieteil am Anfang wurde noch dreimal eingefügt und somit verlängert) 
• Pasarelska im Tanzprogramm von Michael Hepp, CD „Tänze im Kreis 6“ (deutlich bearbeitet: 15 sec. des schnellen Endes als Intro vorangeschnitten; den langsamen Teil um einen Melodiedurchlauf verlängert)

Hörprobe: Pasarelska Variante 1 (XOPO X-330)
Hörprobe: Pasarelska Variante 2 („Beliško horo“ Balkanton BHA 340)

Von San Francisco aus trat der Tanz seine Reise in die Folkloretanzwelt an. Er kam zunächst mit Jim Schlesinger von den „Rusali” nach Los Angeles, von dort mit Rubi Vučeta und Yves Moreau in andere Teile der USA und schließlich ab 1970 mit US-Studenten nach Deutschland. Steve Kotansky und Yves Moreau hatten die Pasarelska in ihren Programmen, als sie später hier unterrichteten. Die Rusali-Tänzer haben jedenfalls ganze Arbeit geleistet, da es ihnen gelungen ist, mit ihrer Adaptation eines Četvorno Šopsko den Bulgarienexperten Yves Moreau auf die west-rhodopisch-ost-pirinische Pomaken-Fährte zu setzen. Es ist – so dürfen wir vielleicht vermuten – in erster Linie dieses sehr spezielle Musikarrangement, das den besonderen Reiz und die Beliebtheit der Pasarelska ausmacht: 

„A typical case of the «Lost in Translation» syndrome! […] I still like the dance. It now belongs to the recreational folk dance culture” schreibt Yves Moreau im Juni 2019: „Ein typischer Fall des Lost-in-Translation-Syndroms. Ich mag den Tanz immer noch. Er gehört jetzt zur Freizeittanzkultur.”


(1) „На леса хванати. Диал. За множество от хора, заловени за пояса при разходка на мегдана, игра на хоро.” (Q.: Институтът за български език: https://ibl.bas.bg/rbe/lang/bg/леса/)

(2) s. Herwig Milde: Die bulgarische Tanzfolklore (Kiel 2004) S. 65

(3) Der Akzent liegt bei diesen lexikalischen Belegen auf dem Flechtwerk, nicht der Stange („stave”), wie es englische Quellen nahelegen und dabei auf die gerade Reihe der Tänzer Bezug nehmen. (”Perhaps the most characteristic of all positions is the „na pojas“ where the dancers hold each other by their belts or waistbands. When a group of dancers use this particular hold and dances in a straight line, this formation is known as „na lesa“ (on a stave).” Yves Moreau: „Folk Dances of Bulgaria”, zit. b. Michael Kuharski, eefc-Mail 22.09.1998 – dort noch 2 Belegstellen für „on a stave”). David Shochat (eefc-Mail 22.09.1998) versöhnt beide Lesarten anhand Stojan Džudžev: Bălgarska narodna horeografija (o.J.): „… dances are called na lesa (ljasa) because the dancers, close relatives, take hold by shoulder, which gives the look of a „lesa“ (woven staves).“ – Also ist es ihm zufolge beides: gerade Reihe und geflochten.

(4) Weitere Beispiele aus Bulgarien: Četvorno (horo), Dospatsko (horo), Lomsko (horo), Rodopsko (horo); aus Frankreich: (danse) Allemande, (danse) Polonaise, (danse) Anglaise; aus Deutschland: Rheinländer (Tanz), Schottischer (Tanz), Zwiefacher (Tanz) usw.

(5) Tanzbeschreibung auf herwigmilde.de

(6) „I learned the dance Pasarelska from Rubi Vuceta in 1967. Rubi was a well-liked Balkan dance teacher in Los Angeles … I also recall that Rubi mentioned that she had learned Pasarelska from Ricky Tejada-Flores (or was it one of his brothers, Miguel or Lito who were also avid Balkan dancers in the Bay Area?), who danced with the Rusali group in San Francisco and who had «deciphered» it from Boris Tsonev’s Book «Izbrani Balgarski Narodni Hora» Vol. III, published in 1957.

(7) „Ich habe auch gehört, daß Pasarelska wenn nicht erfunden, so doch kreativ rekonstruiert wurde von Ricky und Lito Tejada-Flores, irgendwann in den Sechzigern in Berkeley, aus Tanzbeschreibungen, deren Ursprung ich nicht kenne, von denen es aber heißt, sie stammten ‚von dort’.” – „I’ve also heard a story that Pasarelska was, if not made up, then creatively reconstructed from notes (origin unknown to me, but reputed to be from Over There) by Ricky and Lito Tejada-Flores in Berkeley sometime in the 60s.” 

(8) „Народна леса, кято носи наиметованието си от с. Пасарел, Самоковско, където се играе отпреди много години.” Conev 1957 S. 109. Die Angabe, die Pasarelska „wurde von Pomaken (islamisierte Slawen) im Pirin getanzt” bei M. Hepp, Tänze im Kreis 6, S. 37 beruht auf einem Mißverständnis. In einer seiner Tanzbeschreibungen hatte Yves Moreau die Pasarelska in den Westrhodopen verortet, „wo viele Pomaken leben”. Im Juni 2019 präzisiert er in einer priv. Mail, daß sie seiner Meinung nach „wie ein Pomaken-Tanz aussieht”.

(9) „Monson and Tejada-Flores […] got Pasarelska from reading Conev in about 1963. They set Pasarelska to Makedonsko horo on the Columbia record. Filcich created the Mediterranean record in about 1967, which so many subsequent teachers used.” (priv. Mail 03.05.2019)