Ursăreasca: Bären und andere Masken

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Folkloretänze mit ihren Namen auf Tiere verweisen. (1) Einige Beispiele sind Raca (serbisch/vlachisch: Ente), Rața (rumänisch: Ente), Zaeškata (bulgarisch: Hase), Capra (rum.: Ziege), Ovčata (bul.: Schaf), Pateškata (bul.: Ente), Murgulețul (rum.: Fohlen) usw. Oft – aber nicht immer –  handelt es sich um „mimetische“ Tänze, d.h. solche, die die typischen Bewegungen eines Tieres nachahmen, oder um Maskentänze, bei denen die Tänzer (ja! Tänzer! – es sind im traditionellen Brauchtum immer Männer und Burschen) Tier-Verkleidungen tragen; beim rumänischen Ziegentanz (Capra) und dem Bärentanz (Ursăreasca) ist das der Fall. 

Während die meisten Tiertänze sich mit einer rudimentären Präsentation der Figur als solcher begnügen und die Tänzer einfach nur ein „Hase“, eine „Ente“ usw. sind, gehen die Bärentänze weit darüber hinaus. Deswegen sind sie für uns besonders interessant; neben der genannten Ursăreasca („Tanz des Bärenführers“) gehört auch die Bătuta ursului („Stampftanz des Bären“) dazu (sowie – sehr passend – ein Ursăreste de la Tudora – „[Tanz] nach Art des Bärenführers“). Wir wollen hier nicht darüber spekulieren, weshalb diese beiden – und vielleicht weitere Bärentänze, die uns nicht bekannt sind – in unserer Freizeittanzszene praktisch keine Rolle spielen; die Gründe sind sicher vielfältig und bedürften genaueren Nachforschens. (2)

Wir folgen bei unserer Darstellung der Bräuche und Vorstellungen, die den Kontext rund um die Bärentänze bilden, weitgehend der Abhandlung von Marianne Mesnil: Les Héros d’une Fête – Le Beau, la Bête et le Tzigane (Bruxelles 1980, 153 S.) (dt.: Die Hauptfiguren eines Festes – Der Schöne, das Tier und der Zigeuner). Sie stützt sich darin auf ihre Beobachtungen in Tudora, einem weitgehend isolierten Dorf in der Bukowina, ca. 40 km südöstlich von Suceava gelegen, dessen vorindustrielle (M. Mesnil: „mittelalterliche“, „archaische“) Lebensweise und damit ein altes, von modernen Einflüssen sehr wenig berührtes Brauchtum sich noch lange erhalten hat; die Bräuche, um die es hier geht, sind die Maskenumzüge an Silvester und Neujahr. Diese dürfen aufgrund der zeitlichen und räumlichen Lage des Dorfes Tudora – zeitlich im Sinne der sozioökonomischen Entwicklung – für exemplarisch genommen werden. Mesnils detaillierte und hochdifferenzierte wissenschaftliche Analyse wollen wir hier auf eine einfachere, allgemein verständliche Ebene bringen. 

Um das Geschehen und seine Akteure zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick auf das Dorf und das Weltbild seiner Bewohner zu werfen. 

Das traditionelle Dorf 

war in konzentrisch angeordneten Zonen strukturiert: rund um die Siedlung befanden sich die kultivierten Flächen, die Gärten und Äcker, darum herum das Grünland mit den Viehweiden, die wiederum umschlossen waren von den Wäldern – weitgehend Wildnis, die aber auch ausgebeutet wurde (Holz, Pilze, Beeren). Der Gegensatz Kultur – Wildnis wurde von den Dorfbewohnern damals als wesentlich massiver erlebt als heute von uns modernen Stadtbewohnern. Wir müssen uns nur vor Augen führen, dass in den wilden Wäldern seinerzeit – und in manchen Landschaften Rumäniens bis heute – gefährliche Tiere zu Hause waren wie Wolf und Bär. Hinzu kamen in der Vorstellung der Menschen eine Reihe von Geistern und Dämonen, die neben den Wäldern auch in der Übergangszone, den Wiesen, ihr Unwesen trieben, wie z.B. die Elfen. 

So wie hier Kultur und Wildnis einander gegenüberstehen, besteht im Selbstverständnis der Bevölkerung eine ähnliche Opposition zwischen „wir“ und den „Anderen“ – und mit diesem „wir“ sind durchaus nicht einfach die Dorfbewohner gemeint. Es sind diejenigen, die einerseits aufgrund ihres gemeinsamen Wirtschaftens, der kollektiven Nutzung der Ressourcen des Dorfes sowie der Nachbarschaftshilfe, und andererseits durch Verwandtschaft (Endogamie) eng miteinander verbunden sind. Die „Anderen“ sind sowohl die, die nicht aus dem Dorf stammen, als auch die im Dorf wohnenden oder verkehrenden Angehörigen einer anderen Klasse (der Pope, der Doktor, der Beamte) und einer anderen Volksgruppe – Juden, Araber und Zigeuner. Juden und Araber gehörten als fahrende Händler zum ländlichen Alltag, während die Zigeuner einerseits als Kesselschmiede, die Kupferkessel und anderes Metallgerät reparieren konnten, andererseits als angesehene Musikanten wohl unentbehrlich, aber wegen ihrer andersartigen Lebensweise am Dorfrand nur geduldet waren. Diese soziale Unterscheidung wird im Neujahrsspiel aufgegriffen und überhöht; es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man die Darstellung der „Anderen“ als Karikaturen bezeichnet. Die Gegenüberstellung von Publikum einerseits und maskierten Figuren andererseits unterstreicht dies noch. 

Für Menschen, die von und mit der Natur leben, spielt der Jahreslauf mit seinen markant voneinander unterschiedenen Jahreszeiten eine zentrale Rolle, die sich selbstverständlich in vielerlei kulturellen Elementen widerspiegelt. Unter ihnen stechen die Aktivitäten zum Jahreswechsel besonders auffällig hervor – eigentlich kein Wunder, wenn man dessen tiefere Bedeutung für die Menschen in der Vormoderne genauer betrachtet. 

Mummenschanz

In der Neujahrsnacht und am Neujahrstag ziehen Gruppen verkleideter Figuren durchs Dorf. Sehr ähnliche Maskenumzüge werden noch im Alpenraum als „Perchtenläufe“ in den Rauhnächten (oder Zwölfnächten) veranstaltet. Während der Umzug am Tage einen „offiziellen“ Charakter hat, von Behörden und Politik unterstützt (und kontrolliert), offenbart der Besuch der Gruppen in der Nacht bei den Bauern seine ursprüngliche rituelle Funktion in einem eher privaten Rahmen. 

Die folgenden Hauptfiguren treten dabei auf: 

Das „Pferdchen“ (Căluțul) – sein Kostüm ist ein am „Reiter“ befestigtes und mit Tüchern verhülltes Gestell, das Kopf und Körper des Tieres darstellt. Die „Pferdchen“ treten in größerer Zahl als Gruppe auf. 

Die „schöne Ziege“ (Capra frumoasă) – ein aus Holz gefertigter Ziegenkopf mit beweglichem Unterkiefer sowie ein weißes Tuch, das den Darsteller verhüllt; er lässt mittels einer Schnur den Unterkiefer klappern und akzentuiert damit den Rhythmus des Tanzes. 

Der „Bär“ (Ursul) besteht aus einer Bärenkopfmaske, die der Träger auf dem Kopf trägt und einem Kostüm aus braunem Schaffell. 

Der „Bärenführer“ (Ursarul) mit unmaskiertem, schwarz geschminktem Gesicht und groteskem Kostüm stellt eine Karikatur des realen Zigeuners gemäß den Stereotypen der Bauern dar; er trägt ein Tamburin als Rhythmusinstrument beim Tanz und eine Umhängetasche für die eingesammelten Gaben. Weitere „Zigeuner“ der Gruppe wie z.B. die „Frau des Bärenführers“ (Ursărița) sind ähnlich verkleidet. 

Der und die „Alte“ (Moșul, Baba) in betont hässlicher, schmutziger, schadhafter Bauerntracht.

Die „wilde Ziege“ (Capra salbatică) ähnlich der „schönen“, aber mit einem Kostüm aus Wolldecken. 

Die „Kesselflicker (Zigeuner)“ (Căldărarii) ähnlich wie der „Bärenführer“ und der „Alte“, allerdings noch grotesker, lumpiger kostümiert und mit allerlei lärmenden Accessoires ausgestattet, sowie mit Kupferkesseln, mit denen sie möglichst viel Krach machen. 

Im Umzug am Tage treten ferner auf: 

Der „Doktor/die Ärztin“ (Doctorul, Doctorița) in weißem Kittel, weißer Haube, mit Stethoskop oder Spritze. 

Der „Finanzbeamte“ (Funcționarul) in städtischem Anzug mit Aktentasche und Papieren. 

Der „Türke“ (Turcul) in rotem Kostüm, rot geschminkt mit schwarzem Schnurrbart und hölzernem Säbel, auf einem echten Pferd reitend. 

Der „Wolf“ (Lupul, neueren Datums) ähnlich dem „Bären“ mit Kopfmaske und Schaffellkostüm. 

Die „Händler“ (Negustorii), „Juden“ (Jidanii) und „Großgrundbesitzer“ (Boierii) – Karikaturen entsprechend den üblichen Stereotypen, eifrig in „Geschäften“ mit wertlosem Geld. 

Das Bärenspiel 

Die Aufführungen der Pferdchengruppe („Pferdchen“ in größerer Zahl und eine „schöne Ziege“) und der Bärengruppe finden sowohl im Tagesumzug als auch bei den nächtlichen Besuchen der Bauernhöfe immer zusammen nacheinander statt. Zuerst tanzt die Pferdchengruppe, dann folgt das Bärenspiel. 

Der „Bärenführer“ betritt die Szene und zieht den auf allen Vieren laufenden „Bären“ an einer Kette hinter sich her. Auf sein Zeichen hin erhebt der „Bär“ sich auf seine zwei Füße und tanzt zum Rhythmus des Tamburins, das der „Bärenführer“ schlägt. Der Rhythmus wird langsamer und der Bär stürzt „tot“ zu Boden. Der „Bärenführer“ beklagt den Tod seines Bären, beugt sich über ihn, „operiert“ ihn mit seinem Messer, Blut spritzt, und der „Bär“ steht „geheilt“ wieder auf und tanzt zum wieder einsetzenden Tamburin-Rhythmus. Alle Mitglieder der Gruppe vereinigen sich in der Freude über die „Wiederauferstehung“ bzw. „Heilung“ des „Bären“. 

„Nach der Aufführung des „Bärenspiels“ gibt es eine Hora für alle, die die allgemeine Freude über die Wiederauferstehung des Tieres ausdrückt und zugleich den Abschluss des Spiels markiert. Alle Masken der Gruppe nehmen daran teil; bei dieser Gelegenheit treten auch die „Kesselflicker“ und das Paar „Alter und Alte“ auf.“ So schreibt Marianne Mesnil auf Seite 51. (3) 

Wir sehen hier an dieser Stelle des Ablaufs den Platz für unsere Bärentänze, die Ursăreasca und die Bătuta ursului. Die Beschreibung der Neujahrsspiele zeigt exemplarisch u.a. auch den Platz des Tanzes im Geschehen: So wie Versammlung, gemeinsames Essen und Trinken, Musik und Gesang, sowie ritualisierte Handlungen gehört auch der Tanz als originales Element aller Feste mit dazu. Im Neujahrsspiel tanzen die „Pferdchen“ mit der „schönen Ziege“ und der „Bär“, sowie am Ende die ganze Festgemeinschaft. 

Die Bedeutung des Bärenspiels 

Schon von seiner Natur her ist der Bär geradezu prädestiniert für seine Rolle in den Spielen zum Jahreswechsel. Er ist im wilden Wald zu Hause und hat mit seinem Winterschlaf eine jahreszeitlich besonders strukturierte Lebensweise. 

Zum Menschen hat er aber auch besondere Beziehungen, die wohl der Tatsache geschuldet sind, dass er ihm aufrecht auf zwei Beinen entgegentritt – einerseits als Jagdwild, das von daher eine besondere „partnerschaftliche“ Behandlung verdient, andererseits als mythische Persönlichkeit, die in zahlreichen Volkserzählungen und Glaubensvorstellungen Gestalt gewinnt. Schließlich nimmt er als Dorfbewohner (im Besitz eines Zigeuners) eine respektierte Stellung ein, eine ambivalente Position, mit Macht ausgestattet und Wohltaten spendend. (4) Auch das Verwandlungsthema ist in den Volkserzählungen vielfach präsent: Ein Mann wird zum Bären (und manchmal auch wieder zurück zum Mann). Frauen kommen als Gefährtinnen eines Bären vor. 

Da der Bär aus dem wilden Wald kommt, wo auch noch allerlei Dämonen und Geister zu Hause sind, wie z.B. die Iele, von denen wir an anderer Stelle bereits berichtet haben (5), eignet er sich als Mittler „zwischen den Welten“ – der natürlichen und der übernatürlichen. 

Und schließlich verschwindet er im Herbst von der Erdoberfläche (um seinen Winterschlaf zu halten) und taucht im Frühjahr erst wieder auf; eine rumänische Bauernregel macht ihn ausdrücklich zum Frühlingsboten. Dies ist nicht sein einziger signifikanter Bezug zu wichtigen Kalenderdaten. Wer wäre daher besser als der Bär geeignet, den Jahreswechsel zu verkörpern, also Ende und Neubeginn, mitten in den unsicheren Zwölfnächten, in denen allerlei unheimliche Wesen Mensch und Welt bedrohen? Denn sein ritueller „Tod“ im dörflichen Bärenspiel symbolisiert nichts anderes als das Ende des alten Jahres, seine „Wiederauferstehung“ den Beginn des neuen, die Erwartung des Frühlings und des Wiedererwachens der Naturkräfte. Indem die Bauern in ihrem symbolischen Bärenspiel diesen für sie überaus wichtigen Wechsel von Vergehen und Werden inszenieren, vergewissern sie sich des Fortbestandes alles dessen, was ihre Lebensgrundlage ausmacht, ja des Lebens selbst. 

Damit wird deutlich, dass unsere „Bärentänze“, Ursăreasca und Bătuta ursului, zusammen mit den diversen Călușarii-Tänzen und dem bulgarischen Nestinarsko insofern eine herausgehobene Stellung einnehmen, als sie konstitutive Bestandteile von hochgradig symbolischen, ja ursprünglich magischen Ritualen darstellen.  


(1) Allgemeines zu Tanznamen siehe Die bulgarische Tanzfolklore, S. 70

(2) Musikaufnahmen: 

Bătuta ursului: Jocuri Populare Românești – Danses de Roumanie, LP Electrecord – ST-CS 0206 (1987) Collection Danses et Folklore No. 330503; 

Hörprobe: Bătuta ursului (Electrecord – ST-CS 0206)

Ursăreasca: Roemeense Volksdansen 2, LP Nevofoon 15005 (1971); 

Hörprobe: Ursăreasca (Nevofoon 15005)

Ursăreste de la Tudora: Interpreți Din Moldova – Vasile Vițalariu – LP Electrecord – EPE 03647 (1989) aus Theodor Vasilescus Repertoire Video Nr. 4. 

Im Internet sind noch zahlreiche weitere Aufnahmen von Bătuta ursului und Ursăreasca zu finden, sowie weitere Bärentänze (z.B. ein Jocul ursului). 

Tanzbeschreibungen: Bătuta ursului und Ursăreasca auf herwigmilde.de.

(3) „Après l’exécution du „jeu de l’Ours“ a lieu une „ronde de tous“ (hora de toți) qui est à la fois le signe de réjouissance générale devant la résurrection de l’animal et marque la clôture du jeu. Tous les masques de la bande y prennent part; c’est à cette occasion que se manifestent les „Caldarari“, Tziganes chaudronniers, et le couple de „Moșu și Baba“ (le „Vieux“ et la „Vieille“).

(4) Die Ambivalenz des Bären im Dorf rührt daher, dass er als magische Figur mit einer wirksamen Verbindung zur übernatürlichen Welt Unheil anrichten kann, aber – aus demselben Grund – Heil, wenn er für Heilungsrituale eingesetzt wird. 

(5) Siehe den Artikel Călușarii hier auf Tanzrichtung.eu.