Homo saltans

Der Tanz erscheint im Pleistozän

– so könnte man es auf einen Punkt bringen, nach einem Romantitel von Max Frisch. 

Elizabeth Wayland Barber, eine US-amerikanische Archäologin, Linguistin und Kulturwissenschaftlerin, schreibt (1) über die beim Homo sapiens im Laufe der Evolution erstmalige Verbindung zwischen dem Hirnareal, das die akustische Wahrnehmung verarbeitet und dem, wo die Körperbewegungen gesteuert werden, also die neurologische Verknüpfung der Sensorik (Hören) mit der Motorik (Tanzen und verwandte Aktivitäten): 

„Die Bindung [unter den Tänzern] wird durch den Rhythmus bewerkstelligt – nicht nur gehört, sondern verinnerlicht, in identischer Weise, durch alle Anwesenden. Der Rhythmus macht aus Zuhörern Teilnehmer. Durch ihn wird das Zuhören aktiv und motorisch, er synchronisiert Hirn und Geist (und, da mit der Musik immer Gefühl verflochten ist, auch die „Herzen”) aller Teilnehmenden.” (2)

Damit erklärt sie auch, warum Rhythmus, den wir unfreiwillig aufgenötigt mithören müssen, uns erstens direkt ins „System” eindringt und folglich zweitens heftige Abwehr erzeugen kann, zumindest Unwillen (z.B. in der Straßenbahn, wenn kaum 60 cm neben uns das rhythmische Zischen der Perkussion aus einem Kopfhörer dringt). Das ist nicht nur Überempfindlichkeit, sondern jedenfalls zunächst einfach conditio humana – so ist der Mensch neurologisch gebaut. 

Aus der Verhaltensforschung werden zwar in den vergangenen zwanzig Jahren immer mehr Verhaltensmerkmale bei Tieren gemeldet, von denen man früher glaubte, sie seien dem Menschen vorbehalten – Ansätze von Sprache, Sozialverhalten einschließlich Täuschung, Bewußtsein von sich selbst u.a. – die o.g. Verknüpfung von Sensorik mit Motorik jedoch macht den Menschen zum ersten Tänzer der Evolution (und da homo sapiens im Pleistozän auftaucht, ist dies die Epoche, in der der Tanz in die Welt kommt). Auch wenn es bei Tieren (Kranichen, Schimpansen) koordinierte Bewegungen in der Gruppe gibt, die einem Tanz schon sehr ähneln, handelt es sich hierbei nur um Vorformen des Tanzes. Erst die genaue Synchronisation von Bewegung und Lautäußerung, von Tanz und Gesang durch einen kollektiv vorgegebenen Rhythmus zeichnet den Menschen gegenüber den Tieren aus. Den Titel „homo faber” (3) wegen seines Gebrauchs von Werkzeugen hat er schon lange an Primaten, Vögel und Fische abgeben müssen. Dafür gebührt ihm aber der des „homo saltans” (3) als einzigem Lebewesen, das in Gruppen in einheitlichem Rhythmus präzise synchronisierte Bewegungen ausführt – eben im engeren Sinne tanzt. 

Und was macht der Rhythmus mit uns? 

Wirkungen

Gemeinschaft

In dem o.g. Zitat ist von Bindung unter den Tänzern die Rede. Folkloretänzer kennen diese Stimmung, in der sie sich mit den anderen Tänzern vereint fühlen. Wesentlich weiter geht diese Bindung, wenn – wie im südosteuropäischen Dorf – daraus eine Identität entsteht und in der Folge das existenzielle Bedürfnis, im Mittanzen Teil der Gemeinschaft  zu sein. Andere gemeinschaftliche rhythmische Tätigkeiten entfalten ähnliche Wirkungen; so z.B. das Exerzieren der Rekruten, aus dem sich der Korpsgeist entwickelt, oder wenn viele Hände rhythmisch koordiniert die „vereinten Kräfte” steigern, auf dem Schiff, beim Bau, bei der Ernte. (4)  

Gedächtnis

Regelmäßige Strukturen unterstützen die Gedächtnisleistung. In Kulturen ohne ein entwickeltes Schrifttum, in denen also Geschichte, Mythen und Regeln ausschließlich oder vorwiegend auf mündlichem Wege mitgeteilt oder weitergegeben wurden (orale Kultur), half eine rhythmische Gestaltung durch Versmaß, Reime, Alliterationen und formelhafte Wendungen bei der korrekten Erinnerung der „folk lore”, also der Erzählungen des Volkes. (5)

Ekstase

Einige Folkloretänzerinnen – und vielleicht auch Folkloretänzer – kennen den Zustand einer psychischen Erhebung im Tanz, ein Abgehobensein, in dem man kurzzeitig „nicht da” ist und seine Umgebung vergißt. Der Körper tanzt weiter, während der Geist woanders unterwegs ist. Auch Schmerzen können durch den Tanz verschwinden; ein Knie schmerzt schon seit etlichen Tagen – beim Tanzen nichts davon, der Schmerz ist wie weggeblasen und kehrt im besseren Fall auch nicht wieder zurück. 

Schamanen setzen diesen Effekt gezielt ein; sie schlagen einen Rhythmus und tanzen dazu, meist über Stunden, bis sie in einen rauschhaften Zustand geraten, „außer sich” sind und mit einer anderen Welt Kontakt aufnehmen. Eine solche Ekstase ergreift auch die Feuertänzerinnen der bulgarischen Strandža, die nestinari, beim Fest der Heiligen Konstantin und Elena. Auch hier finden wir die Kombination dieser Elemente: Rhythmus, Tanz, Außer-sich-sein. Das bewahrt sie vor Verletzungen beim Lauf über die glühenden Kohlen. Nachahmer, die diesen Ausnahmezustand nicht besaßen, haben sich heftig verbrannt. (6)


(1) Elizabeth Wayland Barber: The Dancing Goddesses. Folklore, Archaeology, and the Origins of European Dance (2013, e-Book). Kapitel 22 „Keeping Together in Time”.

(2) „The binding is accomplished by rhythm—not only heard but internalized, identically, in all who are present. Rhythm turns listeners into participants, makes listening active and motoric, and synchronizes the brains and minds (and, since emotion is always intertwined with music, the “hearts”) of all who participate.“ E. W. Barber beruft sich auf Sacks, Oliver: Musicophilia. New York, 2008, S. 240 ff.

(3) lat. faber: Handwerker, saltare, salto: tanzen

(4) „Die Nachahmung der Verwandten und Nachbarn bewirkt kulturelle und soziale Bindung: Wir sind ähnlich, also halten wir zusammen und helfen einander. Die zeitlich abgestimmte Koordination mit anderen kann Gruppeneffekte stark verbessern bei der Verteidigung, beim Nahrungserwerb (Jagd) und der Beseitigung von Hindernissen.”

„[…] imitating one’s family and neighbors creates cultural and social bonds: we are similar, so we stick together and help each other. And timed coordination with others can greatly improve group efforts at defense, food acquisition (like hunting), and removing obstructions.“ a.a.O.

(5) „Vor dem Gebrauch der Schrift zur Abfassung von Stammesgeschichte und Empfehlungen wurden diese regelmäßig in Liedform gebracht, denn Melodie, Rhythmus und andere raffinierte Regelmäßigkeiten wie Alliteration, Reim und formelhafte Wendungen halfen dem offiziellen Erinnerer, dem Barden, beim Erinnern.” 

„Before writing existed, cultures regularly encoded their clan histories and advice into song because the melody, rhythms, and other concocted regularities (such as alliteration, rhyme, and formulaic tags) helped the official rememberer, the bard, to recall things.“ a.a.O.

(6) Ausführliche Beschreibung des Ablaufs des Nestinari-Rituals bei E. W. Barber 2013, Kap. 22, und bei Mercia MacDermott: Bulgarian Folk Customs 1998, S, 226 ff; bulgarisch: Диана Радойнова: Феномените на Странджа. Софиа 1999.