Die rumänische Vlășcencuța gehört zu den Tänzen unserer Freizeittanzgemeinde, die nur während eines begrenzten Zeitraums und auch nicht überall getanzt wurden, obwohl der Tanz – seine Choreographie – reizvoll und nicht schwieriger als andere beliebte Tänze ist. Wir meinen, die Vlășcencuța hat anders als viele andere choreographische Kreationen solche Missachtung nicht verdient und haben ein wenig nachgeforscht. (1)
Verschiedene Tänze
Kann man bei Wiederholungen einer Erfahrung überhaupt noch von Überraschung sprechen? Wie auch immer – überrascht waren wir doch bei der Suche nach Belegen, wieder einmal eine ganze Reihe von verschiedenen Versionen anzutreffen. An Tanzbeschreibungen waren die folgenden zu finden:
1. Vlășcencuța de la Băneasa – Popescu-Județ, Gheorghe 1961
2. Vlășcencuța de la Gostinu – Popescu-Județ, Gheorghe 1961
3. Vlășcencuța de la Pietroșani – Popescu-Județ, Gheorghe 1961
4. Vlășcencuța de la Slobozia – Popescu-Județ, Gheorghe 1961
5. Vlășcencuța – Bloland, Sunni 1977
6. Vlașencuța de la Slobozia – Loneux Jacques 1989
7. Vlascencuta (Hinweis im Text: aus Slobozia) – Hilferink, Nicolaas 1990
8. Vlașcencuța de la Petrosan – Hilferink, Nicolaas 2004
9. Vlascencuta de la Gostinu – Vasilescu, Theodor 2011
10. Vlascencuța de la Pietroșani – Loneux Bärbel 2013 (Q.: Marin Barbu)
11. Vlăscencuța de la Pietroșani – Macrea, Silvia 2013
Nr. 1 bis 4 sind Tanzbeschreibungen aus dem Buch von Popescu-Județ, Gheorghe u. Găman, Gh.: Jocuri Populare din regiunea București, București 1961, S. 229 ff. Die Nummern 5 bis 11 sind in der westlichen Folkloretanzszene – bzw. für sie – entstanden. Die Namenszusätze mit „de la …“ geben an, woher die beschriebene Version stammt – „de la Pietroșani“: aus Pietroșani. Nun sollte man ja davon ausgehen, dass diese präzisen Bezeichnungen für die verschiedenen Vlășcencuța-Varianten eindeutig sind. Das ist aber mitnichten der Fall. Die eine Vlășcencuța de la Slobozia ist nicht dieselbe wie die andere; auch die vier Vlășcencuțe de la Pietroșani unterscheiden sich.
Genauer: sie unterscheiden sich in den Schrittfolgen. Der Stil – Hora-Fassung, Ab- und Aufschwünge der Hände, Dreier- bzw. Nachstellschritte, häufig zwei Schritte oder einer pro Takt – ist ihnen weitgehend gemeinsam und kennzeichnet sie zusammen mit dem Rhythmus 2-2-3 als „Vlășcencuțe“.
Der Taktangabe „3/8“ bei Popescu-Județ messen wir keine entscheidende Bedeutung bei. Dass traditionelle 7/16-Takte sich unter modernen (und akademischen) Einflüssen in 3/8 oder 3/4 verwandeln, haben wir bereits mehrfach festgestellt.
Verschiedene Musik
Die für die Schrittfolgen festgestellte Mannigfaltigkeit finden wir auch bei den Musikaufnahmen, die die Tanzvermittler jeweils verwenden (Nummern s. oben):
5. Bloland, Sunni: „Vlășcencuța“, LP „Roemeense Volksdansen Deel 3“, Nevofoon 12153
6. Loneux, Jacques: „Geamparalele“ – LP „Jocuri Populare Românești, Muzica Reprezentativă a Armatei“, Electrecord – STM-EPE 01487 (1979)
9. Vasilescu, Theodor: „Geamparalele“, LP „Toni Iordache – Un Virtuose Du Cymbalum – Trésors Folkloriques Roumains“, Electrecord STM-EPE 01364 (1977). Spätere Veröffentlichungen dieser Aufnahme haben den Titel „Geamparalele lui Haidim“.
10. Loneux, Bärbel: „Geamparalele lui Haidim“ wie 9.
11. Macrea, Silvia: keine Angabe, nicht zu ermitteln, aber wiederum eine ganz andere Einspielung.
Die Tanzbeschreibungen der beiden Vlașcencuțe von N. Hilferink (Nr. 7 und 8) enthalten keine Musikangaben. Ein Video eines Hilferink-Workshops von 1990 belegt immerhin die Verwendung der Aufnahme Nr. 6, wie J. Loneux. (2)
Hinzu kommt, dass die LP Nevofoon 12153 aus dem Tanzprogramm von Theodor Vasilescu und Marius Korpel zusammengestellt ist und somit Vasilescu auch mit dieser Aufnahme gearbeitet haben dürfte. Ferner gibt es eine Vasilescu-Aufnahme von V. de la Slobozia mit der Musik wie Nr. 6 bei J. Loneux.
Verwandtschaft
Beim Recherchieren der Ursprünge der Musikaufnahmen, die zu den verschiedenen Varianten der Vlășcencuța benützt werden, fällt bereits auf, dass die Musik i.d.R. „Geamparalele“ heißt. Die eine Ausnahme auf der Nevofoon-Platte erklärt sich leicht dadurch, dass das eine Produktion für Tanzzwecke ist und die Tracks daher praktischerweise nach den Tänzen benannt wurden, auch wenn die Musik mit einer anderslautenden Bezeichnung unter Musikern geläufig ist. Ist die Vlășcencuța also ganz einfach eine Sonderform der Geamparalele?
Bärbel Loneux schreibt dazu in der Tanzbeschreibung ihrer Vlășcencuța de la Pietroșani von 2013 S. 39:
„Tanz aus SÜDMUNTENIEN (TELEORMAN), aus dem Dorf PIETROȘANI, in der Nähe der Donau und der bulgarischen Grenze. VLASCENCUȚA gehört zu einem sehr alten Tanztyp «GEAMPARA» wie auch die Tänze «ZLATA» und «PANDELAȘUL». Charakteristisch für all‘ diese Tänze ist der 7/16-Takt mit der rhythmischen Struktur: 2/16 (kurz) 2/16 (kurz) 3/16 (lang). Dieser Rhythmus zieht sich konstant durch Melodie und Bewegung. Man kann rhythmische Gemeinsamkeiten mit der bulgarischen RÂCHENICA erkennen (Takt und Akzente sind gleich), die mit der geographischen Situation erklärbar sind.“
B. Loneux nennt Marin Barbu (ohne Herkunft, ohne Jahr) als Quelle für ihre Version der Vlășcencuța.
Anca Giurchescu widmet in ihrem grundlegenden Buch (3) ein umfangreiches Kapitel dem Tanzrepertoire der Regionen. Dort führt sie für Südmuntenien unter den Kategorien nur eine mit ungeraden Takten auf – „Aksak Rhythm Chain“ – und nennt als Typen nur die folgenden: „Rustem, subtype Rustem in a line, Geampara, Schioapa“.
Gheorghe Popescu schreibt (4): „Die V. wird in unzähligen Varianten und Subvarianten getanzt, die alle auf den Schritten der Geampara basieren.“
Daraus und aus den Musik-Befunden wird klar, dass die Vlășcencuța als eine Untergruppe der großen Gruppe der Geamparale zu verstehen ist. Angesichts der recht zahlreichen unterschiedlichen Versionen des Tanzes handelt es sich bei der Vlășcencuța um eine Gruppe von Tänzen, also um einen Tanztyp – auch wenn namhafte Autoren an vielen Stellen von „der Vlășcencuța“ im Singular schreiben. (5)
Das Besondere an der Vlășcencuța (oder besser im Plural: den Vlășcencuțe), im Unterschied zu den Geamparalele ist eine rhythmische Besonderheit. Der 7/16-Takt wird nicht durchgehend mit drei Pulsationen pro Takt (2-2-3) getanzt, sondern sehr oft, oder überwiegend, mit zwei (4-3), wobei die ersten zwei Achtel zu einem Viertel kontrahiert werden. Dadurch bekommt die Vlășcencuța einen etwas ruhigeren Charakter als die sehr lebhafte Geampara (bzw. Geamparalele).
Herkunft
Wir haben bereits gesehen, dass die meisten Tanznamen bereits eine Herkunftsangabe enthalten: „Vlașencuța de la Slobozia“, „V. de la Pietroșani“, „V. de la Gostinu“, um die verschiedenen V.-Varianten voneinander zu unterscheiden. Gostinu ist eine Gemeinde im Kreis Giurgiu, Muntenien. (6) Pietroșani liegt ebenfalls in Muntenien, und zwar im Kreis Argeș. (7) N. Hilferinks „Petrosan“ dürfte das genannte Pietroșani meinen.
Der Fall „Slobozia“ macht dagegen größere Schwierigkeiten, denn die deutschsprachige Wikipedia (8) listet 39 Dörfer und Städte namens Slobozia in Rumänien auf, 11 davon liegen in Muntenien, sowie 15 in der Rep. Moldau. Dies sollte uns nicht wundern, wenn wir die Bedeutung des Namens betrachten: „Slobozia“ heißen in Rumänien und in der Moldau Dörfer von Siedlern (Einheimischen oder Ausländern), die für einen bestimmten Zeitraum von Steuern oder Sozialleistungen befreit waren (9). Das heißt, „Slobozia“ bedeutet auf Deutsch „Freistadt“ oder „Freiburg“ – ein häufig vorkommender Allerweltsname wie „Neustadt“. Immerhin liegen ca. ein Drittel der Slobozia-Orte Rumäniens in Muntenien. Damit finden wir die Herkunftsangabe „Muntenien“, die manche Autoren liefern, durch die Ortsangaben bestätigt.
Eins der Dokumente (Bloland/Stockton 1977, S. 19) schreibt: „Tanz aus Vlașcea“ (Dance from Vlașcea). Die Tatsache, dass die rumänische Wikipedia etwas mit diesem Namen nicht kennt, führt uns zu unserer letzten Frage:
Was bedeutet der Name „Vlășcencuța“?
Der Tanzname
Beginnen wir mit dem Ende, bzw. mit der Endung. Mit der rum. Diminutiv-Endung „-uța“ werden Mädchen bezeichnet (vgl. mîndruța = Liebste) oder hübsche, kleine Gegenstände (căruța = kleiner Wagen). Wenn die Auffassung in einer US-amerikanischen Tanzbeschreibung (Nr. 5), der Name bedeute „Tanz aus Vlașca“ zutreffen sollte, wäre das demnach ein „Tänzchen aus V.“ Das halten wir für abwegig.
Dann betrachten wir den vorderen Teil des Namens, „Vlășcenc-”. Er verweist auf das rum. Adjektiv vlășcean, mit dem Einwohner von Vlașca bezeichnet werden. Vlașca ist der Name mehrerer Orte und eines Kreises in Muntenien. Demnach können wir also den Tanznamen verstehen als „Mädchen aus Vlașca“.
Zum Verständnis dieses Ortsbegriffs führen zwei Perspektiven: die etymologische und die geografische.
„Vlașca“ kann als romanisierte Form des bulgarischen Wortes vlaška / влашка verstanden werden und verweist offensichtlich auf die „W(a)lachen“ (bg. vlaški / влашки), das Exonym (Fremdbezeichnung) für Rumänen (10). Die Orte und der Landkreis namens Vlașca liegen fast alle in Muntenien nahe der bulgarischen Grenze. Während des Mittelalters dehnte sich das Bulgarische Reich mehrfach über die Donau nach Norden aus; Muntenien hatte bulgarische Bevölkerungsanteile. Die Annahme, dass das Toponym „Vlașca“ auf ein slawisches Wort zurückgeht, mit dem Rumänen bezeichnet wurden, ist daher u.E. nicht abwegig.
So könnten wir also noch einen Schritt weiter gehen und „Vlășcencuța“ übersetzen mit „Mädchen aus dem Wlachenland“ – oder schlicht: aus Rumänien. Diese tiefere Bedeutungsschicht möchten wir dem Leser (und auch der Leserin, falls die anders liest als ein männlicher Leser) nicht vorenthalten. Eine entsprechend festlegende Übersetzung des Tanznamens wäre uns aber etwas „zu weit hergeholt“.
Für Unterstützung und vielfältige Hilfen danke ich Jutta Weber-Karn, Radboud Koop und Laura Brinzan.
(1) Es gibt unterschiedliche Schreibweisen des Namens; unsere Nachprüfungen haben ergeben, dass „Vlășcencuța“ korrekt ist. Dexonline schreibt „vlăscean sm vz [= vezi, dt.: „siehe“] vlășcean“, d.h. „vlășcean“ (mit „-ășc-“) wird der Vorzug gegeben; für „Vlăscencuța“ dürfte dasselbe gelten; „Vlașencuța“ ist offensichtlich falsch; die Schreibweise „Vlascencuta/Vlascencuța“ ignoriert einfach die diakritischen Zeichen.
(2) Siehe Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=YeM8qc7aH_w
(3) Giurchescu, Anca, Sunni Bloland: Romanian Traditional Dance, a contextual and structural approach (Bukarest 1992), S. 276
(4) a.a.O. S. 229; „Jocul … se execută in sute și sute de variante și subvariante, toate bazate pe pașii de geampara.“
(5) Ebenso die Webseite „Eliznik“ der Kulturanthropologen Liz Mellish und Nick Green: https://eliznik.org.uk/traditions-in-romania/traditional-dance/chain-dances/danubian-asymmetric-rhythm-dances/geampara-dance/
(6) „comună în județul Giurgiu, Muntenia“; https://ro.wikipedia.org/wiki/Gostinu,_Giurgiu
(7) https://ro.wikipedia.org/wiki/Comuna_Pietroșani,_Argeș – nicht zu verwechseln mit Petroșani, Kreis Hunedoara, Siebenbürgen
(8) https://de.wikipedia.org/wiki/Slobozia_(Begriffsklärung)
(9) „Sat de coloniști (băștinași sau străini) care aveau pe o perioadă oarecare scutire de bir sau de prestații.“ (https://dexonline.ro/definitie/slobozia)
(10) Vlaș/ca, -că, -co, -cu v. Vlah, v(a)lah/v(a)lahi: Nume dat în Evul Mediu de către alte popoare, românilor din stânga și din dreapta Dunării. (Im Mittelalter von anderen Völkern vergebener Name für die Rumänen links und rechts der Donau.) etimologie: limba slavă (veche) vlahŭ. (Q.: https://dexonline.ro/definitie/vlah)